Lutherrose
 

 

 

 

 

 

Neu 01

Armut im Reichtum
Französische Revolution
 

Armut im Reichtum, Reichtum in der Armut                 

Von 1749 bis 1832 lebte Johann Wolfgang von Goethe. Dieser Zeitabschnitt, symbolträchtig vertreten durch Goethes Lebenslauf und sein dichterisches Werk, gehört zu einem vorher nicht da gewesenen Höhepunkt der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte in seiner Breite, Länge, Tiefe, Höhe und Umfang. Es ist der Zeitabschnitt, der die übrige Welt veranlasste, den Deutschen das Zeugnis auszustellen, das Volk der Dichter und Denker zu sein. So umfassend und komprimiert sollte es sich nicht wiederholen. Die Namen müssen nicht genannt werden. Sie sind selbst in unserer gegenwärtigen geschichtslosen Zeit nicht gänzlich untergegangen. In diesen Zeitabschnitt fällt die Französische Revolution, die ihre geistigen Väter und Wegbereiter hatte, ohne die sicher diese Revolution nicht die herausragende Bedeutung erlangt hätte. Es muss sogar gesagt werden, sie wäre ins Leere gelaufen, sie wäre ins bodenlose gestürzt, wenn nicht das Fundament eines geistigen Bauwerkes den nötigen Rückhalt, und die nötige Sicherheit geboten hätte. Es seien nur die Namen Montesquieu (1689- 1755), Voltaire (1694-1778), und Rousseau(1712- 1778) genannt. Sie haben im Vorfeld der Französischen Revolution im Sinne der Aufklärung, die Gesellschaft der Zeit vorbereitet. Montesquieu als Staatsrechtler, Voltaire, der mit scharf geschliffener Klinge die Zustände der Zeit schonungslos offen legte und Rousseau, der die Ursachen menschlichen Versagens untersuchte und zu begründen versuchte.

Sie alle haben den Ausbruch der Französischen Revolution und ihren Verlauf nicht mehr erlebt. Sie alle hatten auf den Sieg der Vernunft gehofft, die sich in der Kraft der Überzeugung ihre Bahn brechen und den Lauf vollenden sollte.

Wie war es mit den deutschen Geistesgrößen der Zeit? Einige Namen, die als repräsentativ gelten können: Immanuel Kant(1724-1804), Georg Wilhelm Hegel(1770-1831), Johann Gottlieb Fichte(1762-1814), Friedrich von Schiller. (1759-1805) Sie alle haben die Französische Revolution, und was daraus folgte, miterlebt.

Dem großartigen Zeugnis, dass die Welt diesen und anderen Geistesgrößen der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte ausgestellt hat, ist ein Makel angeheftet worden. Sie hätten nicht die Kraft und Überzeugungskraft gefunden, dem überkommenen Machtgefüge so entgegenzutreten, die eine Umgestaltung eines auf Unrecht und Unterdrückung sich gründenden Herrschaftsanspruches hätte herbeiführen können. Die Begeisterung und die Zustimmung für die Ereignisse in Frankreich waren vorhanden. Als aber revolutionäre Gewaltherrschaft neue Willkür und Unterdrückung brachten, als die verschiedenen Revolutionsregierungen sich ablösten, und das Rauschen der Guillotine zu vernehmen war, die eigens erfunden wurde, um sich der Revolutionäre und Gegenrevolutionäre schneller entledigen zu können, als die Gefahr tiefgreifender Erschütterungen sich für Europa abzeichnete, da wichen Zustimmung und Begeisterung der Kritik und Ablehnung. Es soll hier kein vernichtendes Urteil gefällt werden, denn es muss entgegengehalten werden, dass Unterdrückung und Ausbeutung in der vorrevolutionären Zeit ein Ausmaß erreicht hatten, die keine Gestaltungsmöglichkeit für ein lebenswertes  Leben mehr offen ließen. Revolutionen haben aber eines an sich: Sie schaffen neue andere Machtverhältnisse und andersgeartete Unterdrückung, immer im Namen einer besseren und höheren Gerechtigkeit.

Der Kategorische Imperativ Immanuel Kants kann nicht passend gemacht werden für eine Revolution. Muss er darum verworfen werden?

Friedrich von Schiller wird niemand obrigkeitsstaatliche Ergebenheit vorwerfen können. Er wurde zeitweise  verfolgt und ins Gefängnis gelegt. Sein Leben und Werk bauten auf Verurteilung der bestehenden Zustände, im Vertrauen auf die Kraft von Erziehung, Einsicht und Vernunft. Überzeugungskraft wurzeln in einer beispielgebenden Haltung, die auch die Gesinnung eines Tyrannen umkehren kann.

Darum  am Schluss der Bürgschaft das überwältigende Bekenntnis des Tyrannen:

Und blicket sie lange verwundert an;

Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,

Ihr habt das Herz mir bezwungen,

Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn-

So nehmet auch mich zum Genossen an.

Ich sei, gewährt mir die Bitte,

In eurem Bunde der Dritte.“

 

Wenn diese Worte als naiv empfunden werden sollen oder müssen, dann hat die Vernunft  im Sinne der Aufklärung ausgedient und überhaupt ausgedient.

 

Schiller hat auch noch anderes verbreitet, etwas für den Revolutionär Resignierendes. Es heißt in dem „Lied von der Glocke“:

 

Wenn sich die Völker selbst befrein,

Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.

 

Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte

Der Feuerzunder still gehäuft,

Das Volk, zerreißend seine Kette,

Zur Eigenhilfe schrecklich greift!

Da zerret an der Glocke Strängen

Der Aufruhr, dass es heulend schallt

Und, nur geweiht zu Friedensklängen,

Die Losung anstimmt zur Gewalt.

 

Freiheit, Gleichheit hört man schallen,

Der ruh’ge Bürger greift zur Wehr,

Die Straßen füllen sich, die Hallen,

Und Würgerbanden ziehn umher;...

 

Nichts Heiliges ist mehr, es lösen

Sich alle Bande frommer Scheu,

Das Gute räumt den Platz dem Bösen

Und alle Laster walten frei.

 

Weh denen, die dem Ewigblinden

Des Lichtes Himmelsfackel leihn!

Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden

Und äschert  Städt und Länder ein.

 

War Schiller ein Feind des Volkes? Die genannten Sätze könnten zu einem solchen Urteil führen. In „Maria Stuart“ sagt Schiller dazu: „Des Volkes Stimme ist Gottes Stimme.“ Entscheidend ist und bleibt, wie diese Stimme ertönt. Stimmen können Verwirrung und Unheil stiften, sie können auch Harmonie erzeugen und entsprechend die Gesellschaft formen. Harmonie aber besteht nicht aus einem Ton, sondern aus vielen Tönen.

Was in Schillers Gedicht „Die Glocke“ lyrische Gestalt annahm, ist unschwer erkennbar auf die Französische Revolution bezogen.

 

Ein anderes Urteil finden wir episch bekleidet anderen Ortes in Goethes: Hermann und Dorothea

 

Als der erste Glanz der neuen Sonne heranhob,

Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei,

Von der begeisterten Freiheit und von der löblichen Gleichheit!

Damals hoffte jeder sich selbst zu leben; es schien sich

Aufzulösen das Band, das viele Länder umstrickte,

Das der Müßiggang und der Eigennutz in der Hand hielt.

Schauten nicht alle Völker in jenen drängenden Tagen

Nach der Hauptstadt der Welt, die es schon lange gewesen

Und jetzt mehr als je den herrlichen Namen verdiente?

Waren nicht jener Männer die ersten Verkünder der Botschaft,

Namen den höchsten gleich, die unter die Sterne gesetzt sind?

Wuchs nicht jeglichem Menschen der Mut und der Geist und die Sprache?

Und wir waren zuerst, als Nachbarn entzündet, .

Drauf begann der Krieg, und die Züge bewaffneter Franken

Rückten näher; allein sie schienen nur Freundschaft zu bringen.

Und die brachten sie auch: denn ihnen erhöht war die Seele

Allein; sie pflanzten mit Lust die munteren Bäume der Freiheit,

Jedem das Seine versprechend und jedem die eigene Regierung; ...

 

Aber der Himmel trübte sich bald. Um den Vorteil der Herrschaft

Stritt ein verderbtes Geschlecht, unwürdig das Gute zu schaffen.

Sie ermordeten sich und unterdrückten die neuen

Nachbarn und Brüder und sandten die eigennützige Menge.

Und es praßten bei uns die Oberen und raubten im Großen

Und es raubten und praßten bis zu den Kleinsten die Kleinen; ...

 

Johann Wolfgang von Goethe (1749- 1832): Hermann und Dorothea

 

Revolutionäre Gewalt schafft neue und andere Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen. Was durch revolutionäre Gewalt und Unterdrückung begründet wurde, kann nur durch Gewalt und Unterdrückung aufrecht erhalten werden. Nur was durch Einsicht und Vernunft zu einer  Entscheidung in Freiheit führt, kann auch in Freiheit aufrecht erhalten werden.

Die christliche Religion gilt als Offenbarungsreligion, dem die Aufklärung die Vernunft und das Zeitalter der Vernunft entgegenstellte.

Aber Offenbarung und Vernunft sind kein Gegensatz. In dem Brief des Apostels Paulus an die Christengemeine in Rom in Kapitel 1, Vers 31 heißt es in einem Lasterkatalog: ...unvernünftig, lieblos, treulos, unbarmherzig...die Unvernunft ist ausdrücklich einbezogen. An anderer Stelle heißt es in diesem Brief in Kapitel 13, Vers 10: ... so ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.  Damit ist Moses  Gesetz gemeint.

Was in der Offenbarungsreligion in dem Satz zusammengefasst wird. Liebe deinen nächsten wie dich selbst. Erklärt die Vernunft in dem Kategorischen Imperativ Immanuel Kants:. Handle so, dass die Maxime deines Willens, jederzeit und zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung  gelten könne.

Die absolutistische Herrschaft in Europa, die sich ausdrücklich auf christliche göttliche Gnade und Berufung gründete, war eine Herrschaft der Unvernunft, weil sie christliche Grundsätze nur dem Namen nach führte und so missbrauchte.

 

Die Französische Revolution versetzte diesem System den Todesstoß, aus dem heraus sich der demokratische Verfassungsstaat entwickelte. Die Französische Revolution war das Bestreben nach politischer und gesellschaftlicher Reform, an eine christliche Reformation war dabei nicht gedacht. Die christlichen Konfessionen standen vor den Toren dieser politischen Entwicklung. Johann Hinrich Wichern, Begründer der sozialen Einrichtung des „Rauhen Hauses“ in Hamburg, hat seine Enttäuschung ausgedrückt in der sinngemäßen Feststellung, dass es Aufgabe der christlichen Kirchen gewesen wäre, die notwendigen politischen und gesellschaftlichen Reformen durchzuführen.

Der demokratische Verfassungsstaat hat sich im historischen Rückblick als notwendig erwiesen, weil er es Parteien, Ideologien und Religionen ermöglicht, im Frieden und friedlichen Dialog miteinander umzugehen, nachdem Europa besonders im 17. und 18. Jahrhundert mit Glaubenskriegen, die mit ausgesuchter Grausamkeit geführt wurden, überzogen worden war.

In England verlief die Entwicklung anders als in Kontinentaleuropa. Die Bürgerkriege in England und Irland im 17. Jahrhundert, die 1688 mit der „Glorious Revolution“ endeten  hatten eine Kirchenreform und eine politische Reform zum Ziel. Während auf dem Kontinent absolutistische Herrschaftsformen die Oberhand gewannen, führte die Entwicklung in England zur Begründung des parlamentarischen Systems. Das war zwar noch kein breit angelegter demokratischer Verfassungsstaat, aber das Fundament war gelegt

 

Wir gelangen auf dem Höhepunkt deutscher Klassik zu einem anderen Werk: „Iphigenie auf Tauris“. Das Griechenland der Antike wird darin idealisiert. Idealvorstellungen haben sich in der Geschichte noch nie verwirklichen lassen, sie sind aber immer erstrebenswert. Und sollten nicht durch Realvorstellungen zunichte gemacht werden.

 

Zu Beginn spricht Iphigenie:

 

...Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.

So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen

Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;

Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.

Denn ach, mich trennt das Meer von den Geliebten,

Und an dem Ufer steh ich lange Tage,

Das Land der Griechen mit der Seele suchend;

Und gegen meine Seufzer bringt die Welle

Nur dumpfe Töne brausend mir herüber...

 

Iphigenie fleht zur Göttin, die sie gerettet und davor bewahrt hat, ein Opfer zu werden, sie fleht um die Rettung ihres Bruders Orest und um Befreiung:

 

...O laß den einz’gen, spät gefundenen mir

Nicht in der Finsternis des Wahsinns rasen!

Und ist dein Wille, da du hier mich bargst,

Nunmehr vollendet, willst du mir durch ihn

Und ihm durch mich die sel’ge Hülfe geben:

So lös ihn von den Banden jenes Fluchs,

Daß nicht die teure Zeit der Rettung schwinde...

 

Diese Worte müssen in einen Zusammenhang gestellt werden, wenn sie auf Verständnis stoßen sollen. Iphigenie steht am Ufer. Wie ist sie an dieses Ufer gekommen, von dem aus sie unglücklich, von einer verzehrenden Sehnsucht bedrängt, hinausblickt auf das Meer?

Erfüllung hat die Sehnsucht zur Voraussetzung, ohne Sehnsucht gibt es keine Erfüllung.

Stirbt die Sehnsucht, folgt ihr die Resignation. Hätte Iphigenie nicht „realistisch“ denken sollen, in ihrer aussichtslosen und ausweglosen Umgebung?

Als die Helden Griechenlands sich aufmachten zu einem Feldzug gegen Troja, und das Vorhaben auf ein Hindernis stieß, sollte Iphigenie, die Tochter des Agamemnon und der Klytämnestra,  geopfert werden, um die Göttin günstig zu stimmen, damit sie die segnenden Hände auf das gewagte Unternehmen legen könnte.

Iphigenie konnte nicht geopfert werden, sie wurde von der gnädigen Göttin Artemis entrückt, und am  Ufer im fernen Taurien abgesetzt, bevor das Opfer vollzogen werden konnte. Es war nicht alles umsonst gewesen, der Wind blies in die vollen Segel der griechischen Flotte, die an das Ufer von Troja gelangte. Zehn Jahre dauerte der Kampf um Troja, bis es fiel, und der Heldenverschleiß auf beiden Seiten war gewaltig. Agamemnon überlebte und kehrte zurück an den heimischen Herd, doch er wurde nicht als Held bekränzt und gefeiert, wie er es sich erträumt hatte. Bei Klytämnestra war schon ein bitterer Stachel zurückgeblieben, ihr fehlte jedes Verständnis dafür, warum gerade sie und ihre Tochter das Opfer bringen sollten. Hinzu kam eine zehnjährige Wartezeit, die den Frauen der griechischen Helden zugemutet wurde. Klytämnestra war der Opferbereitschaft überdrüssig geworden, und sie begab sich an die Seite eines anderen Mannes, des Aigisthos. Als Agamemnon sich in ein Bad niedergelassen hatte, um die entbehrungsreichen Tage vor den Mauern von Troja zu vergessen, wurde er von Klytämnestra und Aigisthos erschlagen; er sollte dem neu gewonnenen Glück nicht im Wege stehen. Als Orest, der Sohn der Klytämnestra und des Agamemnon, davon erfährt, tötet er seine Mutter, erfüllt vom Zorn des Gerechten. Aber die Tat verschafft ihm keine Genugtuung, umgetrieben von den Furien, die das Gewissen strafend heimsuchen, irrt er rastlos umher, bis es ihn mit seinem Freund Pylades an die Gestade Tauriens verschlägt, wo er seine Schwester Iphigenie wieder findet. Als Gefangene des Königs Thoas sind Orest und Pylades zum Opfer ausersehen, das Iphigenie als Priesterin des Königs vollziehen soll. Als Orest und Iphigenie entdecken, dass sie Geschwister sind, entsteht der Plan zur Flucht. Doch König Thoas, der absolute Herrscher, hat ein waches Auge. Die Opferhandlung, die Iphigenie hinauszögern will, soll schnell vollzogen werden. König Thoas schickt Arkas als Boten zu Iphigenie und  der übermittelt den Befehl des Königs:

Beschleunige das Opfer, Priesterin!

Der König wartet, und es harrt das Volk.

Iphigenie mahnt zur Geduld, sie lässt wissen, die Opferstätte sei entweiht worden, durch den mit  Blutschuld beladenen Orest. Ein Reinigungsritual sei somit erforderlich. Das will der Bote des Königs nicht zugestehen. Auf jeden Fall will er sich rückversichern, und sich um neue Richtlinien des Königs bemühen. Es entspinnt sich ein Dialog:

ARKAS: Ich melde dies neue Hindernis

               Dem Könige geschwind; beginne du

               Das heilige Werk nicht eh, bis er’s erlaubt!

IPHIGENIE: Dies ist allein der Priesterin überlassen.

Die Grenzen sind abgesteckt. Grenzen, die keine Kompetenzüberschreitung dulden.

König Thoas gerät über diese Haltung ins Nachdenken, er fürchtet einen Machtverlust, und er überhäuft sich selbst mit Vorwürfen, er bedauert einer liberalen Neigung erlegen zu sein.

THOAS: Entsetzlich wechselt mir der Grimm im Busen:

               Erst gegen sie, die ich so heilig hielt;

               Dann gegen mich, der ich sie zum Verrat

               Durch Nachsicht und durch Güte bildete.

               Zur Sklaverei gewöhnt der Mensch sich gut

               Und lernet leicht gehorchen, wenn man ihn

               Der Freiheit ganz beraubt. Ja, wäre sie

               In meiner Ahnherrn rohe Hand gefallen,

               Und hätte sie der heilige Grimm verschont:

               Sie wäre froh gewesen, sich allein

               Zu retten, hätte dankbar ihr Geschick

               Erkannt und fremdes Blut vor dem Altar

               Vergossen, hätte Pflicht genannt,

               Was Not war. Nun lockt  meine Güte

               In ihrer Brust verwegenen Wunsch herauf

               Vergebens hofft ich mir sie zu verbinden;

               Sie sinnt sich nun ihr eigen Schicksal aus.

Die geplante Flucht lässt sich nicht mehr verwirklichen. Die Machtverhältnisse haben sich verschoben, die griechische Flotte sieht sich einer Übermacht gegenüber, die eine Lösung auf gewaltsamem Wege aussichtslos erscheinen lässt. Es gilt jetzt, die Einsicht zu wecken, und den Mächtigen zu bewegen.

Iphigenie entdeckt Thoas das unheimliche Geheimnis, die Familiengeschichte mit ihren ausweglos erscheinenden Verstrickungen, die das Geschlecht der Tantaliden heimgesucht hatte, eine endlos scheinende Geschichte aus Mord und Intrigen. Jetzt verlagert sich der Streit auf die geistige Ebene. Die Frage des Thoas trifft mitten ins Herz des Geschehens:

Du glaubst, es höre

Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme

Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Artreus,

Der Grieche nicht vernahm?

Artreus, ein Ahnherr der Iphigenie, hatte die Kinder seines Bruders Thyestes umgebracht, und sie ihm danach als Speise vorgesetzt.

Iphigenies Antwort lässt denn auch keinen Raum zur Demonstration moralischer oder geistig kultureller Überlegenheit:

Es hört sie jeder,

Geboren unter jedem Himmel,...

Was hätte die Priesterin unternehmen sollen zu einem Befreiungsschlag, völlig eingekreist, in einer Umgebung mit der Unmöglichkeit auszubrechen?

Sie wollte die Familie, der sie angehörte und das Volk, von dem sie in frühester Jugend hinweggerückt worden war, nicht loslassen. Gründe hätte es genug gegeben, sich zu überwinden und diesen Schritt zu gehen. Volk und Familie hatten sie geopfert, und nur durch einen göttlichen Gnadenakt war sie entronnen, und an das sichere Ufer Tauriens gelangt. In ihrer neuen Umgebung war sie zu höchsten Ehren aufgestiegen mit der Aussicht als Königin die höchste Stufe zu erklimmen.

Der Entschluss dazu wäre jetzt zu spät gekommen, sie hätte den Bruder und den Freund des Bruders opfern müssen, und so der unheilvollen Kette des Tantalidengeschlechts ein weiteres Glied hinzugefügt.

Rede und Gegenrede zwischen König und Priesterin endeten mit den Worten des Königs:

So geht! (modern ausgedrückt: Macht, dass ihr fortkommt!)

Es wäre für den König ein Leichtes gewesen, die Szene als Gewaltherrscher zu beenden, aber zu diesem Schritt konnte er sein Innerstes nicht bewegen.

Die Priesterin wollte sich mit dem angebotenen kalten Abschied nicht zufrieden geben, und so überzeugte sie den, immer noch ihren König, und entlockte ihm eine wärmeres herzlicheres:

Lebt wohl!

Nach Abwägung der geistigen und materiellen Güter lässt sich die Frage anknüpfen: Wer ist arm oder reich aus allem hervorgegangen.

Französische Revolution

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