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Von der Reform zur Restauration Juli 2003
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Von der Reform zur Restauration Juli 2003

1786 in seinem Todesjahr hatte Friedrich den Großen(1712-1786) mit einem Blick auf seine Nachwelt eine Ahnung beschlichen. Ahnungsvoll sah er in die Zukunft und äußerte zutreffend, wie sich zeigen sollte, die Befürchtung, in zwanzig Jahren werde alles Erreichte wieder zerstört sein. Auf das Jahr genau erfüllten sich Vorhersage und Vorahnung.

Auf diese Vorhersage Friedrich des Großen nahm Otto von Bismarck Bezug in seinem Todesjahr 1898. In zwanzig Jahren, so ahnte er ebenfalls voraus, werde alles, was mit soviel Mühen und Gefahren aufgebaut worden sei, ein unrühmliches Ende finden. Vorahnung und Vorhersage erfüllten sich auch hier auf das Jahr genau.

Ein Hang zur Selbstzerstörung liegt im deutschen Wesen, darum konnte die Welt auch nicht daran genesen.

Im Oktober 1806 ereignete für Preußen ein Niedergang und Zusammenbruch. Auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen hatten wir uns gebettet und waren unfähig, das Begonnene erfolgreich weiterzuführen. Mit dieser Aussage beschrieb die preußische Königin Luise(1776-1810) den Zustand Preußens nach der Besetzung durch Napoleon I. Gemessen am Rollenverständnis der Zeit, war Königin Luise eine ungewöhnliche Frau, denn sie mischte sich ein. Sie genoss einen Beliebtheitsgrad bis hinein in breite Schichten der Bevölkerung, was ebenfalls in einer Zeit, die dem ständischen Denken verhaftet war, ungewöhnlich war. Sie hatte einen guten Einfluss auf ihren Mann. Sie verstarb viel zu früh im Juni 1810 an einer Lungenentzündung, Sie hatte schon eine große Bedeutung gewonnen, und sie hätte sicher noch eine viel größere Bedeutung erlangt. Es war ein großer Verlust in der Zeit des Umbruchs und Aufbruchs.

Deutschland und Preußen waren in einen tiefen Abgrund gestürzt. Die Situation vermittelte keine Aussicht, sich daraus wieder herauszuklimmen. Aber es begannen sich tatkräftige Persönlichkeiten zu regen, die unter den Augen des misstrauischen französischen Kaisers Preußen erneuerten.

Reformerischer Schwung begann sich auszubreiten. Namen, die noch heute nicht ganz verklungen sind, stehen damit in Verbindung.

Karl Freiherr von und zum Stein(1757- 1831) hatte schon 1804 einiges in Bewegung gesetzt. Als Minister für Handel, Wirtschaft und Finanzen hob er die preußischen Binnenzölle auf.

Im Juni 1807 legte er in seiner „Nassauer Denkschrift“ Pläne zur Staatserneuerung vor.

Noch auf anraten Napoleons I. wurde von Stein im Oktober 1807 als leitender Minister an die Spitze des preußischen Staates berufen. Das Amt hatte zuvor Karl August von Hardenberg

(1750-1822) innegehabt, er war aber auf Betreiben Napoleons entlassen worden. Von Stein führte weiter, was schon in Angriff genommen worden war. Die Reformen des Freiherrn von Stein waren ein erster Schritt, den absolutistischen Stände- und Obrigkeitsstaat umzuformen zu einem demokratisch ausgerichteten Verfassungsstaat.

Agrarreform, kommunale Selbstverwaltung und Neuregelung der Zentralbehörden kennzeichneten den Weg vom Absolutismus zum Verfassungsstaat. Mit der Agrarreform sollten Leibeigenschaft, Erbuntertänigkeit und Schollengebundenheit ein Ende finden, mit der kommunalen Selbstverwaltung der Gemeinden, Kreise und Städte vollzog sich der Staatsaufbau auf der Grundlage einer Bürgerbeteiligung von unten nach oben. Aber auch die Staatsspitze wurde neu organisiert. An die Stelle der Geheimräte des großen Kurfürsten(1620-1688) und des Generaldirektoriums König Friedrich Wilhelm I.(1688-1740) trat das kollegiale Staatsministerium mit fünf Ministerien. Der Aufbruch in eine andere Welt mit einem anderen Staatsaufbau war begonnen.

Die Minister des Äußeren, des Inneren, des Krieges, der Finanzen und der Justiz hatten einen definierten Kompetenz- und Aufgabenbereich, waren dem König als immer noch absolutistischem Staatsoberhaupt verantwortlich.

Sie besaßen aber das Recht auf Gegenzeichnung zu den vom König verfügten Entschlüssen und Gesetzen. Denn ein Parlament, oder eine wie auch immer geartete Volksvertretung gab es noch nicht.

Am Beginn seines Reformwerkes im Dezember 1807 hatte von Stein aus Memel, wohin der preußische König sich zunächst begeben hatte, an Hardenberg geschrieben: „Ich halte es für wichtig, die Fesseln zu zerbrechen, durch welche die Bürokratie den Aufschwung der menschlichen Tätigkeit hemmt, jenen Geist der Habsucht, des schmutzigen Vorteils, jene Anhänglichkeit ans Mechanische zu zerstören, die diese Regierungsform beherrschen.“

Von Stein hatte mit diesem Satz das Alte, das Absolutistische, beschrieben, das Neue, das Demokratische, sollte noch erst kommen.

Dennoch beschleicht den Menschen der Gegenwart, der in einem demokratischen Verfassungsstaat lebt, beim Lesen dieser Sätze ein merkwürdiges unangenehmes Gefühl.

Vierzehn Monate, von September 1807 bis November 1808, nur waren ihm gegeben, um sein Reformvorhaben zu verwirklichen. Eine kurze Zeit, dennoch hatte es Bestand. Alles war erst der Beginn einer Entwicklung, die aber Früchte in der späteren Geschichte tragen sollte.

In Preußen regierte in Wirklichkeit Kaiser Napoleon I.. Er hatte eine Abneigung gegen den rührigen Westfalen und Reformer von Stein entwickelt und bedeutete dem preußischen König, seinen Staatsminister zu entlassen.

Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Freiherr von Stein wurzelte familiengeschichtlich in der Reichsritterschaft. Traditionsbewusst, wie er war, wollte er das Alte mit dem Neuen verbinden, für die Fremdherrschaft konnte er keine Sympathie entwickeln. Er flüchtete nach Österreich und begab sich 1812 nach Russland, wo er am Zarenhof als Berater des Zaren Alexander I.(1777-1825) fungierte. Wo immer Freiherr von Stein sich aufhielt, bot er all seinen Einfluss auf, um den Kaiser der Franzosen in seinen Herrschaftsabsichten zu behindern und zu schädigen. Als Preußen sich 1812 am Zug Napoleons nach Russland beteiligte, flohen viele preußische Offiziere, darunter auch Clausewitz und Boyen, nach Russland.

Die Reformarbeit wurde von den Mitarbeitern von Steins fortgesetzt. Die Einrichtung einer Nationalrepräsentation, also eine Volksvertretung, war angedacht worden.

Im Juni 1810 übernahm Hardenberg das Amt, das er schon einmal innegehabt hatte. Das Reformwerk wurde weitergeführt. Stationen waren die Einführung der Gewerbefreiheit(1811) sowie die bürgerliche Gleichstellung der Juden(1812). Der Zunftzwang wurde abgeschafft.

Mit dem königlichen Finanzedikt vom Oktober 1810 wurde eine Steuerreform, eine Vereinfachung der Steuergesetze und eine gerechtere Besteuerungsgrundlage eingeführt.

Im Finanzedikt enthalten war auch die königliche Zusage einer Konstitution(Verfassung) für die preußischen Staaten, mit einer Nationalrepräsentation. Der König hatte die Richtung vorgegeben mit einem vagen Versprechen: „Wir behalten Uns vor, der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Repräsentation sowohl für die Provinzen als auch für das Ganze zu geben, deren Rat wir gerne benutzen werden.“ Vorsichtig wie immer hatte der König sich an etwas Entscheidendes herangewagt. Abgeben von seiner Macht wollte er nichts, der vorgesehenen Nationalrepräsentation sollte allenfalls eine beratende Funktion zuerkannt werden.

Im Februar 1811 trat zum ersten mal eine aus Notabeln aller Provinzen ernannte, nicht gewählte, Landesdeputiertenversammlung zur Beratung zusammen. Die vorläufige Nationalrepräsentation hat 1812/13 und 1814/15 weitere Male getagt, und konnte als Modell einer zukünftigen Volksvertretung angesehen werden.

Die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 offenbarte den unzulänglichen und desolaten Zustand des preußischen Militärwesens. Den französischen Revolutionsheeren, denn als solche können sie auch unter Napoleon angesehen werden, waren die Armeen der absolutistischen zum großen Teil noch aus Söldnern bestehenden Heeren mit ihrer zurückgebliebenen Lineartaktik nicht gewachsen. Mit der Umwandlung gesellschaftlicher Gegebenheiten durch die Französische Revolution war auch eine Veränderung im taktischen Aufbau der Heeresformationen einhergegangen.

Die französische Armee war uneingeschränkt eine Wehrpflichtarmee und eine Revolutions- armee, woraus schon eine grundlegend andere kämpferische Einstellung resultierte.

Was in Preußen von Stein und von Hardenberg für den Umbau von Staat und Gesellschaft bedeuteten, das leisteten Gerhard Johann von Scharnhorst(1755-1813), Hermann von Boyen

(1771- 1848) und August Neithard von Gneisenau(1760-1831) für das Heerwesen.

Mit diesen drei Namen verbindet sich die in der Zeit von 1807 bis 1814 durchgeführte preußische Heeresreform. Die Werbung von Söldnern, die auch intensiv außerhalb Preußens betrieben worden war, wurde abgeschafft, ebenso auch körperliche Züchtigungen. Mit beiden verbanden sich Einzelschicksale, wie sie der Schweizer Ulrich Bräker in seiner Autobiographie: „Der arme Mann aus Toggenburg“ anschaulich gemacht hat.

Das Söldnerwesen bildete den Kern der absolutistischen Armeen.

1733 hatte König Friedrich Wilhelm I. in Preußen das „Kantonreglement“ geschaffen. Es sah die Möglichkeit vor, neben der Werbung „Landeskinder“ zum Wehrdienst zu verpflichten.

Das Land wurde in Kantone aufgeteilt. Zu einem Kanton wurden 5000 Feuerstellen gerechnet, und aus diesen Kantonen konnten eine bestimmte Anzahl Rekruten, meist aus Bauernfamilien stammend, ausgehoben werden. Sie bildeten den Kern der preußischen Armee, während die Offizierstellen weitgehend dem Adel vorbehalten blieben. Die preußische Armee war so eine Mischung bestehend aus angeworbenen Söldnern und Wehrpflichtigen. Zum Kantonreglement gab es zahlreiche Sonderregelungen, die vom Wehrdienst befreiten. Mit diesem System hatte sich Preußen eine schlagkräftige und für die Zeit moderne Armee geschaffen. 1806 aber war dieses System den Anforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen.

Ziel der preußischen Reformer war es also, das Kantonsystem durch eine allgemeine Wehrpflicht abzulösen. Vorbild für dieses Ziel war es, ein Volksheer zu schaffen, wie sie 1793 von Carnot, dem Heeresreformer der Französischen Revolution, konzipiert worden war.

Wenn auch in der Französischen Revolution mit ihrer Entwicklung unterschiedliche Strömungen versuchten, die Oberhand zu gewinnen, das Heerwesen entwickelte sich konstant und blieb davon unberührt.

Nicht der viel gescholtne preußische Militarismus also diente der preußischen Heeresreform als Vorbild, sondern die revolutionäre militärische Entwicklung in Frankreich.

Tonangebend in den Bestrebungen zur preußischen Heeresreform war der Generalstabschef Scharnhorst. Er hatte das Unmögliche scheinende möglich gemacht. Napoleon hatte für Preußen eine Heeresbeschränkung von 42000 Soldaten erzwungen. Durch ständige und zeitlich begrenzte Neuaushebungen, die ausgebildet und wieder entlassen wurden, konnte der Heeresbestand auf eine größere Zahl angehoben werden. Von den 143 Generälen, die 1806 Dienst taten, waren 1813 nur noch Blücher und Tauentzien in ihrer Funktion. Das Ziel, nach französischen Vorbild ein Volk in Waffen heranzubilden, rückte näher. Das Vorrecht des Adels auf Offiziersstellen wurde abgeschafft. Der 3. August 1808 markiert die „Verordnung wegen der Militärstrafen“, worin zu lesen war: „ Die Erfahrung lehrt, dass Rekruten ohne Schläge im Exerzieren unterrichtet werden können. Einem Offizier, dem dieses unausführbar scheinen möchte, mangelt entweder die nötige Darstellungsgabe oder der klare Begriff vom Exerzierunterricht.... Die höheren Befehlshaber und die der Kompanien und Eskadrons sind dafür verantwortlich, dass ihre Untergebenen weder den Soldaten auf eine rohe Art behandeln noch sich fernerhin die hie und da üblichen Beschimpfungen derselben erlauben.“

Noch deutlicher wird Oberstleutnant Neithard von Gneisenau(1760-1831) ein Gegner der napoleonischen Herrschaft und zugleich ein Reformer mit Leidenschaft. Ohne Umschweife trifft er den Kern gesellschaftlicher Missstände, die sich festgesetzt und jede evolutionäre Fortentwicklung ausgeschlossen hatten. Seine Worte im Kontext der Zeit sind kraftvoll auf Umwälzung der bestehenden Zustände gerichtet: „Die Geburt ist kein Monopol für Verdienste; räumt man dieser zu viele Rechte ein, so schlafen im Schoße einer Nation eine Menge Kräfte unentwickelt und unbenutzt, und der aufstrebende Flügel des Genies wird durch drückende Verhältnisse gelähmt.... Die neue Zeit braucht mehr als alte Titel und Pergamente, sie braucht frische Tat und Kraft.“

Reformen verlangen eine deutliche Sprache, der dann die notwendigen Aktionen tatkräftig mit sichtbaren Veränderungen entsprechen sollten. Worthülsen, die nur Leerlauf hervorrufen, verschlimmern alles.

Eine weitere Reform sollte Preußen und dem Deutschland des Geistes eine Spitzenstellung über viele Generationen einbringen. Wilhelm von Humboldt (1767- 1835) wurde an die Spitze des dem Innenministerium unterstellten Kulturressorts berufen. Damit wurde ein Mann an einen Platz gestellt, der Bildung selbst verkörperte wie wenige vor ihm und nach ihm. 1862 haben sich auch amerikanische Universitäten die von ihm entworfenen Bildungsrichtlinien zum Vorbild genommen. Stein nannte ihn den Minister des Geistes, und Friedrich Wilhelm III. hatte verlauten lassen, es müsse auf dem Gebiet des Geistes das wettgemacht werden, was anderswo verloren gegangen sei. Wilhelm von Humboldt war eine Persönlichkeit, die diesen Anforderungen in der bestehenden politischen Situation gewachsen war. Nur etwas mehr als ein Jahr war Humboldt im Amt und hat eine Bildungsreform auf den Weg gebracht, die mehr als anderthalb Jahrhunderte Bestand hatte und bestimmend war.

Die Reformer dieser Reform und ihre Kritiker, sie haben eine bildungspolitische Trümmerlandschaft hinterlassen. Sie waren nicht fähig etwas Vergleichbares zu schaffen, das den Anspruch auf Fortschritt und Verbesserung in Sachen Bildung hätte erheben können.

1810 wurde die Berliner Universität gegründet. Ihr erster Rektor war Johann Gottlieb Fichte(1762-1814). Große Namen verbinden sich mit dieser Universität: Schleiermacher(1768-1834), Hegel(1770-1831) und Schelling(1775-1854), um nur diese stellvertretend für viele andere zu nennen. 1812 folgte die Gründung der Universität Breslau und 1818 Bonn. Eine Reform der Gymnasien ging damit einher, in der ein humanistisches Bildungsideal seine Verwirklichung finden sollte. Aber nicht nur die höhere Schulbildung wurde von der Erneuerung des Bildungswesens erfasst. Die Volks- und Elementarschulen wurden ebenso einem Reformkonzept unterworfen, um den Bildungsstand breiter Bevölkerungsschichten zu heben. Vorbild dafür war der Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi(1746-1827) und sein sozialpädagogisches Modell. In Preußen war mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Jahr 1717 mit einem Schulbauprogramm begonnen worden, das dann ständig erweitert wurde.

Eine wesentliche Bestimmung der Bildung war für Humboldt die „zweckfreie Bildung“. Die Zielvorgabe und Inhalt dieser Bildung waren nicht nur einfach Bildung des Intellekts und Anhäufung von Wissen. Die Persönlichkeit in seiner Individualität sollte in einer Ganzheit erfasst und „gebildet“ werden.

Wer war Humboldt, der so nachhaltig den Bildungsweg vieler Generationen vorgezeichnet hat? Einige Stationen seines bildungsreichen Lebens, kurz gefasst, lassen Außergewöhnliches erkennen. Es gab kaum eine Persönlichkeit des deutschen Geisteslebens der Zeit, mit der Humboldt nicht in Verbindung getreten war. Eine besonders enge Freundschaft verband ihn mit Friedrich von Schiller. In Berlin gehörte er zu dem Kreis, die sich in dem Salon der Henriette Herz versammelten, die mit anderen jüdischen Frauen wie Dorothea Veit und Rahel Varnhagen die Salonkultur begründet hatten, wo die Geistesströme der Zeit und die sie tragenden Persönlichkeiten zusammentrafen.

Humboldt hatte einen unersättlichen Bildungshunger und seine Bildungsbiographie ist etwas Auserlesenes. Diese Biographie ist deshalb wertvoll, weil die Früchte dieser Biographie nicht auf sein Leben und seine Zeit beschränkt geblieben sind. Ein Vorteil, den Humboldt anderen voraus hatte, darf nicht unerwähnt bleiben: Er war nicht nur wohlhabend, er war reich. Sorgen des Geldes und der Finanzen waren ihm zeitlebens unbekannt.

1792 verfasste Humboldt die Abhandlung: „ Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Diese Schrift hatte eine Wirkungsgeschichte. Sie hat später auf den Liberalismus im 19. Jahrhundert einen großen Einfluss ausgeübt.

Die Jahre nach 1797 verbringt Humboldt mit Sprachstudien und Bildungsreisen. 1797 bricht er zu einer Reise auf mit Familie. Und was könnte der Zweck gewesen sein? In fremde Menschen, fremde Sprachen und Kulturen will er sich vertiefen. Begriffe wie Freizeit und Zeitvertreib können mit Humboldt nicht in Verbindung gebracht werden. Über Dresden und Wien gelangt er 1799 nach Paris. Anziehend wirkt das französische Geistesleben auf ihn, aber er verfällt ihm nicht.

Auf jeden Fall wirkt das "andere" faszinierend auf ihn. Das treibt ihn zu Sprachstudien und sprachphilosophischen Abhandlungen. Als Linguist gehört er zu den herausragenden Sprachwissenschaftlern der Geschichte. Neben den gängigen alten und neuen Sprachen der Zeit hat er umfassende Kenntnissen in Chinesisch, Koptisch, Sanskrit, Indianerdialekte, Baskisch, Isländisch. Malaiisch. Er verfasste ein dreibändiges Werk: „Über die Kawisprache auf der Insel Java“.

Von Paris reist Humboldt nach Spanien, wo er sich bis 1801 aufhält, um im selben Jahr nach Berlin zurückzukehren. 1802 wird er vom preußischen König zum Ministerresidenten am Vatikan ernannt. Es folgen sechs Jahre Romaufenthalt. Neben seiner diplomatischen Tätigkeit findet er reichlich Zeit, sich besonders mit der römischen und griechischen Antike zu beschäftigen. Was denkt dieser universelle Geist über Deutschland? Im Stil der Zeit schreibt er an Friedrich Heinrich Jacobi(1743- 1819): „Weil ich dies heilige Feuer, das allein die Menschheit zugleich läutert und nährt, mehr als irgendwo sonst in der Deutschen Nation antreffe, so wächst dadurch wie ich nicht leugne, meine tiefe Achtung und innige Anhänglichkeit an sie.“ Bei diesen Zeilen sollte niemand ängstlich werden, Wilhelm von Humboldt war alles andere als ein Deutschtümmler. Es gibt keine Gesamtausgabe seines Riesenwerkes in Deutscher Sprache, sondern nur eine zwölfbändige Ausgabe ist von 1905 bis 1909 erschienen. Vielfach größer ist eine französische Ausgabe, die „Grande Édition“ (Große Ausgabe), die von 1805-1839 erschienen ist und dreißig Bände umfasst. Er war in der ständisch gegliederten Gesellschaft der Zeit ein Aristokrat, aber er hat dem Leben weit mehr gegeben als er von ihm genommen hat. Seine Reformen haben nach den Befreiungskriegen(1813-1815) keine Einbußen erlitten. 1820 schied er aus dem Staatsdienst aus, um sich bis an sein Lebensende 1835 seinen Studien zu widmen.

Noch eine Reform darf in ihrer Bedeutung nicht vernachlässigt werden. 1812 erhielten die Juden in Preußen die staatsbürgerliche Gleichstellung. Sie war aber mit einer Sonderregelung versehen. Juden mussten für den gehobenen Staatsdienst besondere Auflagen erfüllen. Die letzten Schranken fielen erst im September 1869 durch ein Gesetz des Norddeutschen Bundes, das 1871 von Deutschen Reich übernommen wurde.

Dennoch gelang es jüdischen Persönlichkeiten in der Zwischenzeit in einflussreiche Positionen vorzudringen. Es sei nur an Eduard Simson erinnert, der in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus eine führende Rolle einnahm. Er war Präsident der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, des Parlamentes der Erfurter Union 1850, des Preußischen Landtages 1862- 1866.

Die Jahre 1807 bis 1812 waren für Preußen die Reformjahre. Beachtlich ist, wie sich die nötigen und für alle Bereiche befähigten Persönlichkeiten zusammenfanden und in den wenigen Jahren den Staat umgestalteten.

Das Jahr 1813 rückte heran, und es kam die Zäsur der Befreiungskriege. Reformen mussten erst einmal hinten anstehen.

Die Reformjahre waren eine gute Vorbereitung für das Jahr 1813 gewesen. Sie hatten ein Vertrauenspotential geschaffen mit Zukunftshoffnung und damit die Bereitschaft ein Opfer zu bringen. Eine der Hoffnungen war die mögliche künftige Einheit Deutschlands.

Zu Beginn des Jahres 1813 sammelten sich die Freiwilligenverbände, die auch aus den mit Frankreich verbündeten Rheinbundstaaten kamen. Die Uniformen des Lützowschen Freikorps waren auf die Farben schwarz- rot- gold ausgelegt. Das war schon einmal verdächtig. Anfang Februar trat in Königsberg eine Ständeversammlung zusammen, Landwehrverbände, die als eine Volksmiliz angesehen werden konnten, wurden aufgestellt. Freiherr von Stein, gestützt auf Russland, förderte diese Entwicklung, die vom preußischen König mit Argwohn wahrgenommen wurde.

Die Freiwilligenverbände durften anfangs ihre Führer selbst wählen.

Das Vertrauen in eine neue Zukunft breitete sich aus. Es wurde in Preußen, wo die Verhältnisse es gestatteten, eine Landwehr organisiert und aufgebaut. Das war eine Volksmiliz, die 120000 Kämpfer aufbieten konnte. So konnte das durch Gebietsverluste im Tilsiter Frieden 1807 nahezu halbierte Preußen, zu Beginn der Kämpfe 1813 neben Landwehr, Freiwilligenverbänden und der regulären Armee Truppenverbände mit einer Gesamtzahl von 280000 Soldaten ins Feld führen, vergleichbar jeder anderen europäischen Großmacht.

„ Alle Bürger des Staates sind geborene Verteidiger desselben...“ hatte Scharnhorst mit der Verkündigung der allgemeinen Wehrpflicht verlauten lassen.

Am 17. März 1813 erließ Preußens König den „Aufruf an mein Volk“. Das waren gänzlich neue Töne. Das Volk wurde so direkt angesprochen und mit einbezogen. Denen, die das Alte so weit als nur möglich erhalten wollten, und dazu gehörte der König, war diese Entwicklung unangenehm. Aber die Situation war so: Auf das Volk konnte jetzt nicht verzichtet werden, wenn die geplante Befreiungstat gelingen sollte. An diesem Gelingen waren alle interessiert, und so ergab sich eine Zwangslage, die ein Entgegenkommen erforderte. Über Generationen war in preußisch- deutschen Schulbüchern der sentimentale Satz zu lesen: „Der König rief, und alle, alle kamen.“ Zeitzeugen selbst hatten dazu eine Korrektur angebracht, die besagte: „Alle, alle riefen, und der König kam immer noch nicht.“

Volksbewaffnung und allgemeine Wehrpflicht hatten nicht die Sympathie des Königs und einflussreicher Militärs seiner Umgebung. Sie fürchtete er als mögliches zukünftiges Zentrum einer Revolution.

Die Befreiungskriege 1813/15 endeten endgültig mit der Niederlage Kaiser Napoleons im Juni 1815 in der Schlacht bei Waterloo.

Die Unterdrückung von außen hatte damit ein Ende gefunden, wie stand es mit der Unterdrückung von innen? Sie endete nicht so erfolgreich. Alles, was auf dem Wege zu ihrer Beseitigung bisher erreicht worden war, kam wieder auf den Prüfstand der herrschenden Gewalten, die 1789 mit dem Festhalten am Althergebrachten eigentlich alles ausgelöst hatten. Die verheißungsvoll begonnenen Reformen wurden ausgebremst. Auf dem tanzenden Wiener Kongress, wo sich die Mächtigen Europas versammelten, um eine neue Ordnung auszuhandeln, wurde des Volkes Stimme nicht mehr gehört, es hatte sich aufgeopfert und seine Schuldigkeit getan, es wurde nicht mehr benötigt. Der Gedanke daran wurde in den rauschenden Festen, von der Hocharistokratie Europas veranstaltet, als lästig empfunden. Vergessen waren in der luxuriösen Prachtentfaltung rauschender Ballnächte die Grenadiere, die fünfzehn Jahre lang millionenfach auf den Schlachtfeldern Europas verblutet waren.

Die erhoffte Einheit Deutschlands erfüllte sich nicht. Die Erwartungen der hoffnungsvoll Aufblickenden gelangten nicht zur Ausführung. Ein einiges Deutschland, darin war sich Europa zuerst einig, sollte es nicht geben, wenn auch Preußen mit Unterstützung Russlands gestärkt aus den Verhandlungen hervorging.

Der Westfälische Frieden 1648 in Münster und Osnabrück beendete den Dreißigjährigen Krieg. Deutschland wurde aufgeteilt in souveräne Staaten, um die dreihundert waren es zum Abschluss der Verhandlungen. An den Friedensverhandlungen hatten neben Frankreich und Schweden, die unmittelbar am Krieg beteiligt gewesen waren, auch Staaten wie England, Holland, Spanien und Portugal teilgenommen. Als Signatar- und Garantiemächte des Friedensschlusses rangierten Schweden und Frankreich an erster Stelle. Schweden wurde als Garantiemacht 1779 von Russland abgelöst. So hatten ausländische Mächte immer ein Mitspracherecht in deutschen Angelegenheiten. Sämtliche Mündungen großer Flüsse waren in ausländischen Händen, so war Deutschland weitgehend vom Welthandel abgeschnitten oder abhängig. Für die Kolonialimperien, die nach der Zeit entstanden, lieferte Deutschland allenfalls Söldnerheere und die Prinzen und Prinzessinnen für

für europäische Monarchien.

Dem Klein- und Kleinststaatengetümmel hatten Napoleon und Zar Alexander 1803 ein Ende bereitet und die deutsche Staatenwelt durch Mediatisierung neu geordnet, indem kleine Staaten größeren Territorien zur Abrundung einverleibt wurden. Frankreich nahm alle linksrheinischen deutschen Territorien in Besitz. Unter dem Druck der beiden Herrscher kam es 1803 zum Reichsdeputiertenhauptschluss, die gemäß der Bestimmung des Westfälischen Friedens sich für befugt hielten über Deutschland zu entscheiden. Er war das eigentliche Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das sich dann mit der Gründung des Rheinbundes 1806 durch Napoleon, der sich 1804 zum Kaiser gekrönt hatte und der Niederlegung der Kaiserkrone durch Kaiser Franz II.(1768- 1835) 1806 endgültig erledigte. Es entstanden Königreiche, Großherzogtümer und Herzogtümer. Die geistlichen Fürstentümer wurden gänzlich aufgelöst und säkularisiert und mediatisiert. Das System wurde mit der Gründung des Deutschen Bundes 1815 übernommen. Deutschland blieb danach weiter aufgeteilt in neununddreißig souveräne Staaten mit den europäischen Großmächten, fünf an der Zahl, als Garantiemächte, die sich somit ein Mitspracherecht in Deutschen Angelegenheiten gesichert hatten. Erst der staatsmännischen Begabung Otto von Bismarcks gelang es aus diesem System auszubrechen. 1866 fand der Deutsche Bund, der bis dahin unter Führung Österreichs bestanden hatte, ein Ende. Ein Gedicht beschreibt die Stimmung der Zeit zu diesem Ereignis:

„Als man ihn (den Deutschen Bund) zu Grabe gebracht,

Hat niemand geweint,

Doch mancher gelacht.“ Der Deutsche Bund hatte im Vergleich zu den Bestimmungen des Westfälischen Friedens keine wesentlichen Veränderungen für Deutschland gebracht.

Der Wiener Kongress hatte die „Die Deutsche Frage“ mit der Gründung des Deutschen Bundes erledigt. Wie war es mit der Errichtung von Volksvertretungen und eines demokratischen Verfassungsstaates?

Der Reformeifer war erloschen, wo er aufflammte, wurde er ausgetreten. Im günstigsten Falle wurde das Erreichte konserviert, was in den Reformjahren auf den Weg gebracht worden war.

Der Rückfall in alte Denkweisen nahm zu, wenn auch zunächst noch unbestimmte Absichtserklärungen neue Erwartungen keimen ließen.

Im Mai 1815 erließ der preußische König von Wien aus die „Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes“. Entsprechend sollten die ständischen Provinzialverfassungen geändert werden. Außer dieser Zusage geschah nichts weiter. Das Verfassungsversprechen, das schon vor den Befreiungskriegen gegeben worden war, wurde nicht eingelöst. Im Oktober 1817 führte diese hinhaltende Politik zu einem ersten Aufbegehren. Fünfhundert Abgeordnete von zwölf evangelischen Universitäten waren zum Lutherfest auf die Wartburg gekommen, eingedenk der dreihundertjährigen Wiederkehr der Reformation und der Schutzhaft, die Luther dort genossen, und die er zur Übersetzung des Neuen Testamentes genutzt hatte. Es war aber kein Fest für den christlichen Glauben auch nicht für den evangelischen Glauben, es war eine politisches Demonstration mit Forderungen nach der Einheit Deutschlands und Einlösung des Verfassungsversprechens. Die Verknüpfung theologischer und politischer Inhalte, in denen Glaubensinhalte zu politischen Inhalten umfunktioniert wurden, die im Namen Martin Luthers stattfand, hätte Luther missbilligt.

Autoren von Schriften und Büchern, die eine Rückkehr zu vorrevolutionären Zuständen von 1789 befürworteten sowie Relikte aus absolutistischer Zeit wie Korporalsstock und Haarzopf wurden dem Feuer übergeben. Die Studenten hatten sich in Burschenschaften organisiert, mit schwarz- rot- gold als die tragenden Farben.

Im März 1819 wurde der in russischen Diensten stehende Dichter und Schriftsteller August von Kotzebue(1761-1819) von einem Mitglied der Burschenschaften ermordet. Die zahlreichen Theaterstücke, von Kotzebue verfasst, hatten großen Zulauf. Mit der Zahl der Aufführungen seiner Stücke übertraf er sogar Goethe und Schiller. Inhalt und Aufmachung hatten mehr Unterhaltungswert. Er geriet schnell in Vergessenheit. Der Grund für die Tat war die Herausgabe seiner Wochenzeitschrift: „Literarisches Wochenblatt“ mit spöttisch- ironischen Kommentaren zu den deutsch- nationalen Zielsetzungen der Burschenschaften. Kotzebue hatte sich abwechselnd in Deutschland und Russland niedergelassen. Er war in Deutschland wie in Russland gleichermaßen heimisch, auch mit seinem literarischen Schaffen. In Russland wurde er einmal kurz nach Sibirien verbannt. 1792 hatte er in Mainz Erfahrungen mit einer von Frankreich gestützten Revolutionsregierungen gemacht. Sein Urteil fasste er zusammen in der Feststellung, der Terror von unten unterscheide sich nicht von dem Terror von oben. Gemäß dieser Einschätzung teilte er in seinen Publikationen nach beiden Seiten aus.

Der Einfluss, den Kotzebue auf die allgemeine Situation in Politik und Gesellschaft ausübte, war gering, darum musste die Mordtat als ein unverhältnismäßiges Mittel angesehen werden.

Noch unverhältnismäßiger war die Reaktion darauf. Sie führte im August 1819 zu den

„Karlsbader Beschlüssen“, die das Gebiet des Deutschen Bundes umwandelten in einen Zensur- und Polizeistaat. Burschenschaften wurden verboten und ihre Mitglieder verfolgt und inhaftiert. Die Verfolgungsmaßnahmen wurden aber auch auf andere Bereiche der Gesellschaft ausgedehnt. Resignation breitete sich aus, die sich in einem Gedicht wieder spiegelt:

„Das Band ist zerschnitten,

War schwarz rot und gold,

Gott hat es gelitten,

Wer weiß, was er gewollt.“

Hauptinitiator für diese mit Nachdruck betriebene Politik war der österreichische Staatskanzler Clemens Fürst von Metternich(1773 - 1859). Zwei Jahrzehnte hielt das „System Metternich“. Erst mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV.(1795-1861) wurden die Zensurbestimmungen in Preußen gelockert.

Zu einer Entscheidung in der Verfassungsfrage, die aber nicht als Fortschritt angesehen werden konnte, kam es 1828. Es war bei wohlwollender Betrachtung ein Einstieg.

Der Einfluss der konservativen Hofpartei, die keine politische Partei im eigentlichen Sinne war, brachte einige Bewegung nach langer Zeit der Unentschlossenheit. Auf dem Verordnungswege wurden Provinziallandtage eingeführt. Die Maßnahme erfüllte nicht annähernd das zuvor gegebene Versprechen. Die Vertreter dieser Landtage waren nicht aus Wahlen hervorgegangen. Volksvertretungen durch Provinziallandtage zu ersetzen waren ein getarnter Versuch, die Politik der Restauration zu verschleiern. Aber die gesellschaftliche Beschaffenheit, die vor 1789 bestand ließ sich nicht wiederherstellen. Zu sehr hatte sich das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein geändert. Selbst konservative Kreise wollten eine solche Rückkehr nicht. Zwanzig Jahre sollten noch vergehen, bis ein konstitutioneller Wandel sich vollzog. Die Provinziallandtage besaßen nur Beratungs- und Petitionsrecht.

Der Misserfolg der Reformbemühungen war bereits kurz nach den Befreiungskriegen in seiner Entwicklung erkennbar.

Wilhelm von Humboldt war ins Innenministerium berufen und mit der Aufgabe betraut worden, Pläne auszuarbeiten für die Behandlung ständischer Fragen und geriet mit seinen Vorstellungen bald in Gegensatz zu Hardenberg.

Humboldt stand selbst dem aufgeklärten Absolutismus mit den Reformen „von oben“, wie sie von Friedrich dem Großen (1712-1786) und Kaiser Joseph II.(1741-1790) betrieben worden waren, ablehnend gegenüber.

Er war für eine aus Wahlen hervorgegangene Volksvertretung und verfolgte dieses Ziel ohne Umschweife. Hardenberg billigte diese Zielvorstellung, nur wollte er außenpolitische Verwicklungen mit dem Österreich Metternichs und Russland vermeiden. Als Humboldt diese Außenpolitik mit Kritik bedachte, wurde der Bruch unvermeidlich. Er schied Ende 1819 aus dem Staatsdienst aus.

Seine 1810 durchgeführte Bildungsreform wurde nicht beschädigt. In ihr sollte in jeder Schulgattung eine Nationalerziehung durch humanistische Bildungsziele umgesetzt werden.

Es darf auch nicht verkannt werden, dass höhere Schulbildung und Hochschulbildung mit ganz wenigen Ausnahmen materiell besser gestellten Gesellschaftsschichten vorbehalten war.

Hardenberg starb 1822. Freiherr von Stein war nach 1815 nicht wieder in einflussreiche Stellungen gelangt. Die Enttäuschung über die Ergebnisse des Wiener Kongresses hatten ihn zum politischen Rückzug bewogen. Was von seinen Reformen blieb war die kommunale Selbstverwaltung.

Die Agrarreform zeitigte unsoziale Auswirkungen. Es trat eine Entwicklung ein, die den Großgrundbesitz östlich der Elbe begünstigte. Der viel gescholtene „Ostelbische Junker“ trat in Erscheinung. Bismarck sollte später einmal sagen: „Ja, ich bin ein Junker, und ich will auch meinen Vorteil davon haben.“

Erfolgreich verlief nach 1815 die Reform des Finanzwesens durch den Finanzminister von Bülow(1774-1825). Bei Ausgang der Befreiungskriege hatte Preußen durch Kontributionen für die französische Besatzung und den Kriegsauswirkungen eine Staatsschuld von 218 Millionen Talern aufgehäuft. Schon 1830 betrug der preußische Staatsschatz 40 Millionen Taler. Das war echt preußisch.

Preußen war kein absolutistischer Willkürstaat. Es hatte sich feste Rechtsgrundlagen geschaffen, die auch der König nicht umgehen konnte. Das Ethos des preußischen Beamten stand auch außerhalb Preußens in einem guten Ruf.

Als ein besonders wichtiges Datum muss das Jahr 1834 ausgemacht werden. Es war von wirtschaftlicher Bedeutung, und in dem Jahr wurde ein wichtiger Baustein zum Bau der deutschen Einheit eingefügt. Zu Beginn des Jahres 1834 schlossen sich die Nord- und Süddeutschen Staaten zum Deutschen Zollverein zusammen, der zum Abbau der Binnenzölle führte und so ein einheitliches Wirtschaftsgebiet schuf. Österreich blieb ausgeschlossen.

Es zeichnete sich so bereits eine preußische Hegemonialstellung und die „kleindeutsche Lösung“ ab.

Mit der beginnenden Industrialisierung in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts breitete sich soziales Elend aus: Der Pauperismus (Armut), bekannt durch den Aufstand der schlesischen Weber 1844. Das Ereignis wurde von Gerhard Hauptmann (1862-1946) zu einem dramatischen Stoff verarbeitet, und von Heinrich Heine(1797- 1856) in einem Gedicht beschrieben:

Im düsteren Auge keine Träne,

Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:

Deutschland, wir weben dein Leichentuch,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch-

Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten

In Winterskälte und Hungersnöten;

Wir haben vergebens gehofft und geharrt,

Er hat uns geäfft gefoppt und genarrt-

Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,

Den unser Elend nicht konnte erweichen,

Der den letzten Groschen von uns erpresst

Und uns wie Hunde erschießen lässt-

Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,

Wo nur gedeihen Schmach und Schande,

Wo jede Blume früh geknickt,

Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt-

Wir weben, wir weben!

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,

Wir weben emsig Tag und Nacht-

Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch,

Wir weben, wir weben!

In der Zeit des Vormärz von 1815 bis 1848 orientierte sich Preußen nach Osten und ging in der „Heiligen Allianz“ außenpolitisch eine enge Verbindung mit Russland und Österreich ein. Im September 1815 trafen sich die drei Monarchen Zar Alexander I. von Russland ,Kaiser Franz I. von Österreich und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, um ein Bündnis besonderer Art einzugehen. Die drei Monarchen gründeten ihr Bündnis dogmatisch auf die christliche Religion in einem „brüderlichen und christlichen Bündnisvertrag“. Im Namen der unteilbaren heiligen Dreieinigkeit sollten „ihre gegenseitigen Beziehungen auf die erhabenen Wahrheiten gründen, die die unvergängliche Religion des Erlösers( Jesus Christus) lehrt“. Alle Staaten wurden eingeladen, sich dieser Heiligen Allianz anzuschließen. Mit dem christlichen Anspruch, den dieses Bündnis erhob, stellte es sich bewusst gegen die Prinzipien der napoleonischen Herrschaft und gegen die politischen Zielsetzungen, die von der Französischen Revolution aufgestellt, und die als gegen die christliche Religion gerichtet erkannt worden waren. Der russische Schriftsteller Leo Tolstoj(1828-1910) sieht in seinem Werk „Krieg und Frieden“ in Napoleon I. den Antichristen. Eine solche Sichtweise birgt Gefahren in sich. Sicher gab es in den Ländern der drei Monarchien vieles, was überhaupt nicht christlich war. Politik zumal weltliche Politik kann zumindest nicht dogmatisch auf die christliche Religion begründet werden. Das ist unzulässig. Wohl kann sie auf ethische Maßstäbe der christlichen Religion aufgebaut werden, wenn sie das unternimmt, dann muss sie sich auch mit den ethischen Maßstäben der christlichen Religion messen lassen.

Martin Luther habe den protestantischen Obrigkeitsstaat begründet, behaupten seine Kritiker.

Nun, der Grundsatz: cuius regio, eius religio (wessen das Land, dessen der Glaube), demzufolge die Untertanen dem Glauben ihres Landesherren folgen mussten, war das Ergebnis des Augsburger Religionsfriedens, der 1555 von den katholischen und protestantischen Reichsständen ausgehandelt wurde. Da weilte Luther schon nicht mehr in dieser Welt. Das wie vieles andere, das im Verlauf der Glaubenskämpfe und Glaubenskriege seine Verwirklichung gefunden hat, war von Luther ursprünglich nicht so gewollt. Tatsache ist und bleibt: Die vielen Kritiker Martin Luthers haben auch nicht annähernd in der Geschichte Wirklichkeit werden lassen, verglichen mit dem, was Luther auf den Weg gebracht hat.

Ein Bismarckzitat, das auch seine Kritiker in Anspruch genommen haben, besagt: „Mit der Bergpredigt kann ich keine Politik machen.“ Die Bergpredigt gilt als das Herzstück der christlichen Botschaft. Gelten für einen Politiker wie Bismarck andere Maßstäbe als gemeinhin für andere Individuen? Die Frage ergibt sich zwangsläufig. Wenn Bismarck nach dem Buchstaben der Bergpredigt hätte handeln wollen, dann hätte er zu den Dänen sagen müssen: Nehmt Schleswig- Holstein, und zu den Österreichern hätte er sagen müssen: Übernehmt uneingeschränkt die Führung des Deutschen Bundes, wir unterwerfen uns bedingungslos, und zu Kaiser Napoleon III. hätte er sagen müssen: Nimm alle deutschen Gebiete auf dem linken Rheinufer. Ein Politiker in der Stellung Bismarcks ist nicht nur mit seinem Gewissen sich selbst verpflichtet, sondern er handelt für ein Kollektiv und für alle, die diesem Kollektiv, sprich Staat, angehören. Über die Gewissen dieser Individuen kann er nicht einfach selbstherrlich entscheiden. Darum hat Max Weber(1864-1920) auch unterschieden zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Eine weitere Frage kommt notwendigerweise hinzu: Können Politiker moralische Kategorien außer acht lassen? Das können sie nicht, und das hat Bismarck in seiner Politik auch nicht getan, das ist zwar vielfach behauptet worden, es stimmt aber einfach so nicht.

Was theologisch für Martin Luther gilt, das gilt politisch für Otto von Bismarck. Bismarck, so die gängige und geläufige Kritik, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, habe zu wenig Demokratie verwirklicht. Er hat mehr Demokratie verwirklicht als seine Kritiker wahrhaben wollen. Nicht wenige Nachfolger Bismarcks haben es neben ihrer Kritik versäumt, das Begonnene fortschrittlich weiterzuentwickeln.

Die geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution hatten nicht die Absicht die christliche Religion und Kirche zu reformieren. Viele von ihnen waren Gegner des christlichen Glaubens. Sie verfochten ein politisches Anliegen, sie wollten Staat und Gesellschaft politisch reformieren. Ihr Anliegen, das zur Französischen Revolution geführt hat, war berechtigt. Von Luther ist ein Zitat beigebracht worden in dem er ausführt: Um einen Staat zu organisieren ist der christliche Glaube nicht nötig, das können die Heiden auch, und sie können es oft noch besser. In dieser Aussage ist schon ein Stück Aufklärung zu erkennen.

Der Staatsrechtler Montesqieu( 1689- 17755), der die Lehre von der Gewaltenteilung begründet und ausgeformt hat, forderte in seinem Werk auch die Einhaltung von Tugenden, womit er klargestellt hat, dass auch ein demokratisch ausgestalteter Verfassungsstaat auf ethische Maßstäbe nicht verzichten kann.

Die Heilige Allianz, die sich mehr dogmatisch als ethisch auf die christliche Religion gründete, wollte aber die berechtigten Forderungen, mit denen die Französische Revolution bestimmend wurde für den Lauf der Geschichte nicht anerkennen und begründete das dogmatisch nicht ethisch.

Der glaubende Christ wird hier in ein Spannungsfeld versetzt, das sich wieder findet in der Diskrepanz zwischen dogmatischen und ethischen Anspruch der christlichen Religion.

Dogmatisch müsste sich der Christ hingezogen fühlen zum Bekenntnis der Heiligen Allianz, ethisch müsste er sich den politischen Reformbestrebungen der Zeit zuwenden, das gilt auch rückblickend. In dieses Spannungsfeld wurde König Friedrich Wilhelm IV. hineingezogen, als er 1840 den preußischen Thron bestieg und mit dem Verfassungsversprechen seines Vaters konfrontiert wurde. Er ist in diesem Spannungsfeld zerbrochen. Eines darf nicht verkannt werden: Friedrich Wilhelm IV. und einige seiner engen Mitarbeiter waren beeinflusst durch eine christliche Erweckungsbewegung nach den Befreiungskriegen. Für sie war der christliche Glaube nicht einfach ein Vorwand, um Gehorsam und Staatsraison zu erwirken.

Es gab aber an der Heiligen Allianz etwas sehr Bemerkenswertes. Die drei Monarchen gehörten drei verschiedenen christlichen Konfessionen an. Zar Alexander I. war russisch- orthodox, Kaiser Franz I. katholisch und der preußische König Friedrich Wilhelm III. protestantisch. Als solche traten sie für die Einheit der Christenheit ein. Der Papst lehnte darum dieses Bündnis ab. Und noch eine Macht stellte sich dagegen: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Mit der nach ihm benannten Monroe- Doktrin wollte der amerikanische Präsident Monroe(1758-1831) ein Eingreifen europäischer Mächte in Südamerika verhindern, wo die spanischen Kolonien um ihre Loslösung vom Spanien mit nordamerikanischer Unterstützung Krieg führten.

Die Heilige Allianz kann als ein Vorläufer des Völkerbundes und der UNO angesehen werden.

1848 endete der europäische Vormärz, der zwei ein halb Jahrzehnte angedauert hatte.

Die Märzrevolution in Berlin, brachte die lang geforderte Verfassung, wenn auch noch mit vielen Unzulänglichkeiten. Die Märzrevolution 1848 in Wien war das endgültige Ende der Ära Metternich. Er trat von allen seinen Ämtern zurück und floh nach England. 1851 kehrte er in seine Heimat zurück. Ein politischer Einfluss wurde ihm nicht wieder eingeräumt. Wieder einmal wurde mit Waffengewalt das bewirkt , was Vernunft und freie Entscheidung ebenso hätten bewirken können.

Gegen Preußen und später Deutschland ist oft der Vorwurf erhoben worden, sie hätten sich zu sehr nach den osteuropäischen Großmächten Österreich und Russland orientiert. Hätten sie sich mehr nach Westen orientiert, dann wären beide in ihrer Entwicklung demokratischer geworden. In solchen Thesen ist ein in nicht geringem Umfang politischer Opportunismus enthalten. Über Jahrhunderte hinweg waren sich nämlich der Osten und der Westen in einem Punkt einig: Deutschlands Machtzuwachs zu verhindern, und es sich so immer gefügig zu erhalten und nutzbar zu machen. In den Revolutionswirren des Jahre 1848 hatte Zar Nikolaus I.(1796- 1855) dem preußischen König, der immerhin sein Schwager war, offen mit militärischer Intervention gedroht, wenn er den aus seiner Sicht revolutionären Bestrebungen zu weit entgegenkäme. Auf westliche Solidarität hätte Preußen in einem solchen Fall nicht rechnen dürfen.

Restauration

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