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Preußen war anders

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April 2003

Preußen war anders

Indem wir die Einheit des Menschengeschlechts behaupten,

widerstreben wir auch jener unerfreulichen Annahme

von höheren und niederen Menschenrassen.

Es gibt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Kultur

veredelte, aber keine edleren Volksstämme.

Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt,

zur Freiheit, welche in roheren Zuständen den einzelnen,

in dem Staatenleben, bei dem Genuss politischer Institutionen,

der Gesamtheit als Berechtigung zukommt.

(Alexander von Humboldt 1769- 1859)

Die Betrachtung Preußens beginnt mit einem Zitat Alexander von Humboldts, dem Naturforscher, der seine Forschungsreisen in Südamerika mit einem vierunddreißigbändigen Werk krönte. Er genießt in den Ländern, die er bereiste heute noch einen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad, der um vieles größer ist als in dem Kulturkreis, dem er entstammte.

Wie war Preußen? Es sind zu Preußen bestimmte gängige Klischees verbreitet worden, die sich lange gehalten haben. Da war der Pensionärsschädel und der Mann mit dem Monokel und dann noch der Typ, der sich ständig drehte und die Hacken zusammenschlug. Manches ist als typisch preußisch angesehen worden, was eigentlich typisch unpreußisch war.

Vor allem aber ist die Preußische Geschichte als Wegbereiter Hitlers zu Darstellung gelangt. Das lies sich natürlich nur mit dem Mittel grober Geschichtsfälschung verwirklichen. Da hat es nicht wenige gegeben, die es hier zur Meisterschaft gebracht haben. Sie haben sich abgemüht und die Geschichte so hingebogen und sich selbst dabei verbogen. Preußen und NS-Ideologie, das sollte identisch sein. Wer die Preußische Geschichte genauer betrachtet, der wird das genaue Gegenteil feststellen. Hitler war es denn auch, der Preußen ideell und materiell zerstört hat.

„ Preußen, das ist Freiheit mit Vernunft,“ so hat es Moltke empfunden. Es gibt eine Freiheit mit Unvernunft. Missbrauch der Freiheit führt dahin, wo Missbrach der Autorität auch hinführt. Beide Wege enden in einem Abgrund.

Moltke war aus dänischen Diensten in preußische übergewechselt. Aus seiner dänischen Zeit beschreibt er ein Erlebnis: „ Da ich keine Erziehung, sondern nur Prügel erhalten, so hat sich bei mir kein Charakter ausbilden können. Das fühle ich oft schmerzlich. Dieser Mangel an Halt in sich selbst, dies beständige Rücksichtnehmen auf die Meinung anderer, selbst die Präponderanz der Vernunft über Neigung verursachen mir oft einen moralischen Katzenjammer, der bei anderen gerade aus dem Gegenteil einzutreten pflegt. Man hat sich ja beeilt, jeden hervorstechenden Charakterzug zu verwischen, jede Eigentümlichkeit wie Schösslinge einer Taxuswand fein beizeiten abzukapseln....Wie beneide ich fast alle anderen um ihre Fehler, manchmal um ihre Derbheit, Unbekümmertheit und Geradheit...“

Am 25. Februar 1947 wurde Preußen durch alliierten Kontrollratsbeschluss aufgelöst. Es gab Preußen als Staat de facto ohnehin nicht mehr weder territorial noch im staats- und völkerrechtlichen Sinne, aber sie wollten sich dennoch dieser Mühe unterziehen. Begründet wurde dieser Schritt mit dem Argument, Preußen sei immer ein Hort der Reaktion und des Militarismus’ gewesen. Vergessen war, dass in Preußen- Deutschland das erste umfassende Sozialversicherungssystem errichtet worden war. Und der Militarismus hat Eingang gefunden in allen Armeen der Welt, angefangen mit dem Gleichschritt des Alten Dessauers (1676-1747), und der preußische General von Steuben wurde in Amerika auch nicht verschmäht, um die geschwächte Armee George Washingtons im Unabhängigkeitskrieg(1776-1783) zu reorganisieren. Voltaire(1694-1778); der viele Jahre mit Friedrich dem Großen befreundet war, hätte vielleicht gesagt: „ Sie spucken in die Suppe, damit andere sie nicht essen sollen“. Das eigentlich bescheidene Schloss Otto von Bismarcks, das einsam im Sachsenwald stand, wurde am 29. April 1945 von alliierten Bombern in Trümmer gelegt. Preußen und seine Geschichte und Deutschland und seine Geschichte sollten ganz verschwinden. Nichts sollte mehr daran erinnern. Als Brandenburg anfing, das Zentrum dessen, was einmal Preußen ausmachte, da hatte es nichts. Es hatte nicht einmal fruchtbares Ackerland, auf dem sich Reichtümer hätten erwirtschaften lassen. Spöttisch nannten sie es daher: „Des Kaisers und des Reiches Streusandbüchse“. Niemand will gerne auf einem glorreichen Höhepunkt an die Anfänge erinnert werden. Wer hört heute noch gerne die Geschichte von den Trümmerfrauen, mit denen die „Stunde 0“ begann.

Deutschland und Preußen geschichtslos zu machen, bedeutet beides zu entwurzeln. An die Stelle preußischer Erziehung, oder was als propagandistisches Zerrbild davon vorgestellt worden ist, sollte und soll etwas anderes treten.

Wann hat Preußen aufgehört zu bestehen? Eine oft gestellte Frage. Preußen ist mindestens zweimal gestorben, das könnte eine Antwort darauf sein.

Am Tage der Kaiserproklamation des Zweiten Deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871, ging ein Ereignis im Jubel der Versammelten im Schloss zu Versailles unter. Wilhelm I., gerade zum Kaiser ausgerufen, missachtete ganz offen mit einer demonstrativen Geste den Architekten dieses Reiches: Otto von Bismarck(1815-1898). Die unmittelbare Umgebung erfuhr auch den Grund. Weinenden Auges hatte er den Umstehenden seinen Kummer mitgeteilt: „Heute wird Preußen zu Grabe getragen.“ Er muss etwas geahnt haben von dem, was kommen werde, und was dann auch wirklich gekommen ist.

Eine Frage ist schon gestellt worden, eine zweite schließt sich an. War Preußen wirklich der Ursprung deutschen Wesens, das ihm mit national- heroischem Aufputz angedichtet worden ist? Wie hatte der König gewirkt, der als der größte in der preußischen Geschichte angesehen wird: Friedrich II.(1712-1786). Dem König, dem die Welt später besondere Größe bescheinigt hat. Augen- und Zeitzeugen schildern ihn mit Dreispitz, einer etwas lotterhaft wirkenden Uniform und ein wenig schräge nach vorn geneigt einhergehend. Bei einem Zusammentreffen mit dem Kaiser Joseph II.(1741-1790) nach dem Siebenjährigen Krieg hatte er zu Ehren seiner österreichischen Gastgeber eine weiße österreichische Offiziersuniform angelegt, die bald mit Schnupftabak bespritzt war. Peinlich berührt erklärte er der umstehenden aristokratischen Gesellschaft: „Ich bin nicht reinlich genug für ihre Uniform.“ Er, der peinlich darauf achtete, dass bei den Revuen jeder Uniformknopf an seinem Platz saß. Im ersten Schlesischen Krieg im ersten Treffen 1741 bei Mollwitz schien das Gefecht verloren, und die Träume eines Eroberers ausgeträumt. Der König, der gerade ausgezogen war sein Reich zu vergrößern, musste fluchtartig das Schlachtfeld verlassen. In Begleitung wollte er in der Festung Oppeln Zuflucht suchen. Das Tor der Festung war verschlossen, und als der König und seine kleine Truppe Einlass begehrten bemerkten sie die österreichische Besatzung. Nicht allen gelang die Flucht mit Ausnahme des Königs. Ein offenes Tor und ein gastfreundlicher Einlass hätte dem österreichischen Naturell eher entsprochen und hätte dem Haus Habsburg viel Ärger mit Preußens Friedrich erspart. Oft war er in den Schlachten des Siebenjährigen Krieges(1756-1763) gefährdet gewesen. In der Schlacht bei Kunersdorf (1759) hatten ihn preußischen Kavalleristen nur mit Mühe vor dem Zugriff eines Reitertrupps Kosaken bewahren können. In der Schlacht bei Torgau(1761), die Reitergeneral Ziethen, der „Ziethen aus dem Busch“, in der letzten Phase noch für Preußen gerettet hatte, als es schon Nacht geworden war, hatte ihn eine verirrte Kugel vom Pferd gerissen. Sie hatte sich, durch eine Tabaksdose aufgehalten, in der Uniform verfangen. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, erkannte er was geschehen war und worauf es ankam. Er erhob sich und erklärte den Umstehenden: „Es ist nichts.“ Als er den Uniformmantel aufknöpfte, und die Kugel, die ihn getroffen hatte in den Schnee fiel, ließ sich einer aus den Reihen, die ihn mit Spannung umgaben, vernehmen: „ Fritz du teilst alles Leid mit uns....“ Niemand sollte etwas über die preußischen Verluste erfahren, das hatte er nach der Schlacht angeordnet. Sie waren höher gewesen als die Verluste der Österreicher. Als der siebenjährige Ringen sein Ende gefunden hatte, begab sich der Schlachtenkönig noch einmal nach Kunersdorf, wo der Untergang Preußens als unvermeidlich angesehen wurde, und wo danach sich das „Miracle des Hauses Brandenburg“ ereignet hatte. Der nächste Gang führte ihn in die Garnisonskirche. Ergriffen hörte er das Tedeum von Graun. Die Prachtkutsche, die ihm der Berliner Magistrat entgegen gesandt hatte, um ihn im Triumph einzuholen, bestieg er nicht. Heimlich begab er sich in sein Schloss, und das Volk in Berlin wartete enttäuscht und vergeblich.

Der Franzose d’Alembert, Präsident der Preußischen Akademie hat ihm dieses Verhalten offen zum Vorwurf gemacht. Aber dieser König liebte es nicht, umjubelt zu werden. Er äußerte dazu in dem ihm eigenen Stil: „Kleiden sie einen Affen in bunte Gewänder und setzen ihn so aufs Pferd, dann werden die Leute ebenso zusammenlaufen.“ Er liebte auch keine unterwürfigen Schmeichler um sich. Im Siebenjährigen Krieg befahl er einem Offizier mit einem Trupp Grenadieren, das Schloss Hubertusburg zu plündern. Der legte zum Erstaunen des Königs seinen Degen nieder und ließ den Kriegsherren unumwunden wissen: „Majestät, das ist mit der Ehre eines preußischen Offiziers nicht vereinbar.“ Die Glorifizierung, die später mit Friedrich II. betrieben wurde, findet im Leben dieses Monarchen keinen Niederschlag. Er konnte sich sehr selbstkritisch äußern, an Voltaire schrieb er:

„Ich habe den Artikel Krieg in Ihren Enzyklopädischen Fragen mit schaudern gelesen. Wie kann ein Fürst seine Truppen, die eine Uniform von grobem blauem Tuch und Hüte mit einer weißen Schnur tragen, wenn sie sich erst genug haben links und rechts drehen müssen zum Ruhme hinführen, ohne den schönen Titel Räuberhauptmann zu verdienen, da er ja nur einen Schwarm von Müßiggängern unter sich hat, die aus Not gedungene Henker werden, um unter ihm in allen Ehren das Straßenräuberhandwerk zu treiben? Haben Sie vergessen, dass der Krieg eine Landplage ist, die alle anderen zusammen aufwiegt, und mit der obendrein noch alle möglichen Verbrechen verbunden sind?“

Als der Pulverdampf des Siebenjährigen Krieges gerade verzogen war, versammelte der preußische König am Morgen nach seiner Rückkehr die kurmärkischen Landräte um sich. Einer von ihnen trat hervor, um eine Laudatio zu halten. Der König winkte ab: „Sei Er still lasse Er mich reden. Hat Er Crayon (Bleistift)?- Nun so schreibe Er auf: Die Herren sollen aufsetzen, wie viel Roggen zu Brot, wie viel Sommersaat, wie viele Pferde, Ochsen und Kühe ihre Kreise höchstnötig brauchen. Überlegen Sie das recht, und kommen Sie übermorgen wieder zu mir.“

Im friedlichen Aufbau hat dieser Monarch ebenso Größe bewiesen wie als Schlachtenlenker. In vielen englischen Gaststätten der Zeit hing das Bild, aus dem, etwas schräge angeordnet mit Dreispitz, der preußische König herausschaute, dem England nicht weinig zu verdanken hatte.

Als England 1761 im Siebenjährigen Krieg, den es in Übersee mit Frankreich führte, die Subsidienzahlungen für Preußen einstellte, bewegte der gerade als Premierminister entlassene William Pitt der Ältere(1708-1778) seinen gichtbeschwerten Körper ins britische Unterhaus, um den Abgeordneten ins Gewissen zu reden, es sei eine Schande für England, Preußen in seinem Kampf alleine zu lassen, auf den Schlachtfeldern in Deutschland seien Britanniens Überseeprovinzen gesichert worden. Der Appell an den Edelmut fand keinen Wiederhall. Als

nach der ersten verlorenen Schlacht bei Kolin 1757 Preußen in gefährliche Bedrängnis geriet und dem englischen Bündnispartner den Vorschlag unterbreitete, die britische Flotte solle in den Ostseeraum einlaufen, um russischem Vordringen Einhalt zu gebieten, erklärte der britische Außenminister Lord Holdernesse unumwunden: „Wir führen den Krieg als Kaufleute,“ der Handel dürfe nicht beeinträchtigt werden.

Sieben Jahre hatte Preußen mit 4,5 Millionen Einwohnern europäischen Mächten mit einer Einwohnerzahl von 80 Millionen gegenübergestanden. Mehr als einmal vom Untergang bedroht, hatte es überlebt. Können wir uns den König, der es zur Größe geführt hatte, vorstellen mit Adlerhelm und Panzerweste, mit tressen- und ordenbehangener Galauniform oder mit brillantenbesetztem Marschallsstab? Wir können es nicht, und wir dürfen es auch nicht, es stünde im krassen Widerspruch zu quellenmäßig überlieferten Wirklichkeit.

Preußen ist mehrmals gestorben, materiell und ideell. In der Zeit der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 war Preußen unter der Führung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun ein Anker demokratischer Stabilität. Im Juli 1932 wurde die Regierung Braun im so genannten Preußenputsch staatsstreichartig von der Regierung des Reichskanzlers von Papen abgesetzt. Ministerpräsident Preußens wurde Hermann Göring, über dessen krankhafte Eitelkeit im NS-Herrschaftsbereich zahlreiche Flüsterwitze umgingen. Aber das war noch das geringste, wie sich später herausstellen sollte. Er wurde zugleich Reichstagspräsident, weil die NSDAP aus den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 als stärkste Fraktion hervorgegangen war. So weit war es also mit Preußen gekommen.

Bismarck hat ahnungsvoll eine Entwicklung vorhergesehen, die sich in dem Zitat wieder findet: „Die Eitelkeit ist eine Hypothek, die von der Leistungsfähigkeit des Menschen, auf dem sie lastet, in Abzug gebracht werden muss, um den Reinertrag darzustellen, der als Ergebnis seiner Begabung übrig bleibt.“

Die Eitelkeit hatte Einkehr gehalten nach dem Abgang Otto von Bismarcks im März 1890. !913, als das Ende des Bismarckreiches nahte, feierte sie noch einmal einen Triumph. Allerkleinste Herrscherpersönlichkeiten hatten in dem kleinen Städtchen Zabern im Elsass die Bevölkerung durch schneidige uniformierte Arroganz gegen sich aufgebracht. Dazu wurde dann noch die Losung ausgegeben: „Immer feste druff.“ Sie meinten mit einem Imponiergehabe Preußen zu vertreten und hatten nicht wahrgenommen, dass Preußen in den wesentlichen Phasen seiner Geschichte das genaue Gegenteil gewesen war. Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches war Preußen in Deutschland aufgegangen. Mit einem preußischen Leitgedanken: Esse quam videre (mehr sein als scheinen) war eine Umkehr vollzogen worden hin zu: Mehr scheinen als sein.

Friedrich II., den die Welt Größe bescheinigt hat verkörperte den preußischen Leitgedanken und preußisches Wesen. Er ist in Preußen selbst nicht ohne Kritik geblieben. Sogar Bismarck hat kritische Distanz gewahrt. Dennoch ist der Aufstieg Preußens mit Friedrich dem Großen verbunden wie mit keinem anderen preußischen Herrscher. Er hatte seine Grundsätze im Krieg wie im Frieden, die sich in dem Satz wieder finden: „Nur durch emsigste Arbeit, beständige Aufmerksamkeit und viele kleine Einzelheiten kommen bei uns die großen Dinge zustande.“

In den Schlachten der Kriege um Schlesien gab es für ihn keine königliche Sonderbehandlung. Er führte die Truppen nicht mit dem Zeigefinger auf der Generalstabskarte oder von einem Feldherrnhügel. Er war in der Mitte des Geschehens und hatte dennoch den Überblick. Während des Gefechts und auch sonst teilte er die Gefahren und das harte Los und Lager mit den Grenadieren, zu jeder Tages- und Nachtzeit und zu jeder Jahreszeit.

Der französische Marschall Belle- Isle, der sich während des Ersten Schlesischen Krieges(1741-1742) im preußischen Lager aufhielt, verfasste einen Bericht an die Regierung des Kardinals Fleury in Paris über das Geschehen: „ Der König befehligt nicht nur seine Armee in allen wesentlichen Dingen, wie jeder andere General auch, er besorgt auch alle übrigen Hauptgeschäfte, die bei uns dem Maréchal de logis der Cavalerie und dem Majorgeneral obliegen, die Beschaffung der Lebensmittel, der Artillerie, das Geniewesen;

den Angriffsplan auf Brieg hat er gemacht. Morgens um 4 Uhr steht er auf, steigt zu Pferde und reitet von rechts nach links alle Posten und Umgebungen seines Lagers ab; den Offizieren aller Grade gibt er selber die Befehle und Weisungen, an ihn werden alle Meldungen abgegeben, alle Berichte erstattet. Man führt ihm sogar die Überläufer und Spione zu, die er ebenso ausfragt wie die Gefangenen; davon war ich selber gestern Abend und heute Morgen Zeuge. Gestiefelt ist dieser Fürst vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, trägt die gewöhnliche blaue Uniform und ist kenntlich nur durch seine Orden und eine etwas reichere Epaulette als die seiner Adjutanten.“ Zum Schluss diese Berichtes wird noch ausgeführt, der preußische König habe eher die Lebensgewohnheiten eines Franzosen, als die eines Deutschen. Eine sehr zutreffende Feststellung, denn Friedrich der Große sprach und schrieb fast ausschließlich französisch, und in Wissenschaft und Literatur umgab er sich mit französischen Geistesgrößen. Sein Deutsch in Orthographie und Grammatik muss bei jedem sprachempfindlichen Menschen eine Gänsehaut erzeugen. Kein Land außerhalb Frankreichs war so vom französischem Geist beeinflusst und durchdrungen wie Preußen, angefangen mit den eingewanderten Hugenotten Ende des 17. Jahrhunderts bis hin zur französischen Aufklärungsliteratur, die König Friedrich verinnerlicht hatte, und die ihn in seinem

politischen Handeln beflügelte. Die Ideen der Aufklärung versuchte er auf seine Weise in dem Staat zu verwirklichen, dessen erster Diener er sein wollte. Allerdings, für seine deutschen Landsleute hatte er die Losung ausgegeben: „Die seele vohr Got und alles andere vohr mihr.“

Aber König Friedrich war nicht nur ein kriegerischer König. In Friedenszeiten widmete er sich der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, mit dem gleichen Eifer. Alles, was dienstbar und nutzbar gemacht werden konnte, erregte seine Aufmerksamkeit, ob Kartoffelanbau, Erfolge einer Schafszucht in Spanien, fortschrittliche Agraranbaumethoden in England oder Seidenraupenzucht, nichts konnte so leicht seinem geübtem geistigen Auge entgehen. Zu allem dienten jährlich durchgeführte Inspektionsreisen dazu, alles unvermittelt in Augenschein zu nehmen. Überall konnte unverhofft die Kutsche des Königs erscheinen, dann hieß es Rechenschaft ablegen, denn er war gut informiert bis in alle Winkel seines Reiches aus dem Stoß Notizen, die er mit sich führte. Um diese Inspektionsreisen ranken sich viele Anekdoten und Geschichten, wahre und erfundene. Hat diese Art des Regierens nicht etwas Erdrückendes für die freie individuelle Entscheidung? Diese Frage ist oft gestellt und unterschiedlich beantwortet worden. Gotthold Ephraim Lessing(1729-1781) hat herbe Kritik geübt am preußischen Wesen, aber er hat Preußen auch sein Stück „Minna von Barnhelm“ gewidmet.

Es ist oft behauptet worden, die Preußische Geschichte habe zwei Gesichter. Das ist wohl wahr. Aber welche Geschichte anderer Staaten hat sie nicht?

Neben den Regierungsgeschäften hatte der König sich ein Refugium geschaffen: Das waren wissenschaftliche Studien, Philosophie, Literatur und die Musik. Auch auf diesen Gebieten hat er Beachtliches vorzuweisen. Seine schriftstellerischer Nachlass umfasst zweihundert Bände, alles in französischer Sprache. Er las ausschließlich französische Autoren. Sogar im Krieg führte er eine Feldbibliothek mit sich. In seinen Studien suchte er einen Ausgleich: „Mit ihnen will ich mich vergnügen, bis meine Lampe erlischt; sie mildern den Sinn und bewirken, dass sich die Strenge der Vergeltung, die Schärfe der Strafe, kurz alles, was die Herrschergewalt an Härte mit sich bringt, mit Philosophie und Duldsamkeit sich zu einer Mischung paart, deren es bedarf, wenn man Menschen regieren will, die nicht vollkommen sind, und wenn man selbst dabei nicht vollkommen ist.“

Als dieser König am 17. August 1786 das Zeitliche mit dem Ewigen vertauschte, eilte ihm bereits ein legendärer Ruf voraus, über die Grenzen Preußens hinaus.

Aus Caltanisetta auf Sizilien schrieb Goethe(1749-1832) im April 1787: „Wir mussten von Friedrich dem Zweiten erzählen, und die Teilnahme der Einwohner an diesem großen Könige war so lebhaft, dass wir seinen Tod verhehlten, um nicht durch eine so unselige Nachricht unseren Wirten verhasst zu werden.“

Skizzenhaft ist hier ein Stück Preußen aufgezeichnet worden, mit dem König als Vorlage, dem die Welt auch außerhalb Preußens Größe bescheinigt hat. Aber mit Friedrich dem Zweiten oder dem Großen ist das Wesen Preußischer Geschichte noch lange nicht erschöpfend dargestellt oder voll erfasst. Die Geistes- und Kulturgeschichte Preußens ist Vielfalt und auch Gegensätzlichkeit. Da ist nichts uniformiertes zu finden, weil bei dem Begriff Preußen zumeist an Uniformen gedacht wird und an militärische Despotie.

Immanuel Kant konnte unter der Ägide eines absolutistischen Fürsten offen die Aussage wagen, er hielte die Republik für die bessere Staatsform. Immanuel Kant, der in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ ein Weltbürgertum und Weltbürgerrecht befürwortet hat. Eine Forderung, die mit der Schaffung der Vereinten Nationen nach Verwirklichung trachtet.

Zwischen Preußen und Hitler mit seiner Ideologie besteht ein Gegensatz, wie er größer nicht gedacht werden kann.

Nach 1945 sollten Deutschland und seine Menschen umerzogen werden (Reeducation of Germany) Diese Umkehr hatte nicht nur eine Abkehr vom Nationalsozialismus zum Ziel, sie wurde vielmehr gestaltet zu einer Abkehr von der Deutschen Geschichte in ihrer Gesamtheit. Entsprechend dieser politischen Maxime ist dann auch die Deutsche Geschichte zurechtgeschneidert worden. Es wird damit das Ziel verfolgt die geistigen Grundlagen, die ihre Wurzeln in der Geschichte haben und nur dort haben können, zu zerstören. Mit der Zerstörung der geistigen Grundlagen kann die Nation endgültig ausgelöscht werden, die materielle Substanz gerät dann zur Bedeutungslosigkeit.

Es bereitet keine Schwierigkeiten über der Deutsch-Preußischen Geschichte, denn die Geschichte beider ist untrennbar miteinander verknüpft, ein negatives Bild aufzuhängen. Genau sowenig bereitet es Schwierigkeiten, über andere vergleichbare Nationen und Staaten ein negatives Bild aufzuhängen.

Es kommt immer darauf an, welche politischen Ziele in einem solchen Fall verfolgt werden. Soll aufgebaut oder soll zerstört werden? An der Zielsetzung entscheidet und unterscheidet sich die Auseinandersetzung mit Geschichte.

Zwei Beispiele einer Auseinandersetzung mit Geschichte sollen das verdeutlichen: Ein Schreiben an Peter Glotz, einmal Bundesgeschäftsführer der SPD, der heute als Professor in der Schweiz tätig ist und ein Schreiben an Klaus Kinkel, einmal Bundesvorsitzender der FDP und Bundesaußenminister.

Die beiden Schreiben an Peter Glotz und Klaus Kinkel sind unter einem Titel zusammengefasst worden, der Preußische Geschichte beleuchtet. Es sind aber auch Themen eingeflochten worden, die zum Zeitpunkt, als die Schreiben verfasst wurden, von besonderer Aktualität waren. Der Balkankonflikt ist angesprochen worden. Die Nachwehen dieser leidvollen Auseinandersetzung mit Krieg, Vertreibung und Menschenrechtsverletzungen sind noch gegenwärtig. Das Eingreifen der Nato, dem größten Militärbündnis der Geschichte, kam erst zögerlich, dann viel zu spät. Damit vollzog sich eine Politik, für die analog andere politische Entwicklungen in der jüngeren Geschichte herangezogen werden können. Hitler wurde erst machtvoll und stark gemacht und dann bekämpft. Stalin gelangte mit Hilfe westlicher Demokratien zu der Machtfülle gebracht, die er in der Geschichte erreichte.

Die Talibanmilizen wurden mit amerikanischen Kapital und Waffen versorgt und konnten so Afghanistan unterwerfen. Osama bin Laden war Agent des amerikanischen Geheimdienstes, bevor Jahre später die Jagt auf ihn eröffnet wurde. Saddam Hussein, gegen den jetzt, während diese Zeilen geschrieben werden, Krieg geführt wird, ist mit massiver Unterstützung der Mächte zu einem politischem Machtfaktor geworden, die jetzt mit Hunger und Bombenteppichen den Irak zur Demokratie erziehen wollen. Der SPD Politiker Oscar Lafontaine hat in einer Fernsehgesprächsrunde das deutlich gemacht mit der Aussage, die Mächte, die den Krieg gegen den Irak betreiben, wollen die Waffen zerstören, die sie selbst einmal geliefert haben. Eine sehr zutreffende Feststellung. 1991 wurden die Schiiten im Süden Iraks in ihrem Aufstand allein gelassen, nachdem sie zuvor ermutigende Zusagen erhalten hatten. Der Giftgaseinsatz des Iraks gegen die Kurden und den Iran hatte die Lieferung des Westens zur Herstellung dieser Waffen zur Voraussetzung. 1991, als gute Voraussetzungen zur Beendigung des Krieges bestanden, wurden diese Möglichkeiten nicht genutzt. Dafür wurde ein Embargo verhängt, das einer halben Million Kindern durch Hunger und Unterernährung ein qualvolles Ende bescherte. Das sind einige Beispiele einer Politik, die auf ein planvolles System schließen lässt, hier einfach von einem „Fehler“ zu sprechen, das greift zu kurz.

Zurück zum Balkankonflikt. Die unheilvollen Grundsätze, wie zuvor in aller Kürze geschildert worden sind, fanden auch dort ihre Anwendung. Die Mächte, die erst die serbische Seite unterstützt hatten, ließen Serbien danach fallen. So ist auch den Serben Unrecht geschehen, wie auch den anderen Völkern im ehemaligen Jugoslawien. Der Autor dieser Zeilen hat sich während des Krieges um den Kosovo mehrfach mit dem jugoslawischen Generalkonsul im jugoslawischen Generalkonsulat in Hamburg zu ausführlichen Gesprächen getroffen, um das zu bekunden. Ein Versöhnungsprozess unter den Völkern des ehemaligen Jugoslawien ist jetzt erschwert. Zuviel ist geschehen. Europa wird nur dann eine gedeihliche Zukunft erwarten können, wenn es in versöhnlichem Geist zusammenwächst. Dazu gehört es auf historische Reminiszenzen zu verzichten, in denen traditionsgemäß alte Konfliktmodelle wieder zu politischem Leben erweckt werden. Da wird von der Angst der Polen vor einem deutsch- russischem Zusammengehen gewarnt. Die Verträge von Rapallo werden wieder bemüht. Eine Reihe weiterer Beispiele könnten genannt werden. Wer so Misstrauen unter die Völker Europas sät, schafft altes neues Unheil.

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Heinz Drews Hamburg, den 1. Juni 1993

Postfach 605475

2000 Hamburg 60

Herrn

Peter Glotz

Mitglied des Deutschen Bundestages

Bundeshaus

5300 Bonn

Sehr geehrter Herr Glotz!

Im „Spiegel- Spezial“ Ausgabe Nr. 2/1993 ist unter Ihrem Namen ein Beitrag zu finden, der den Titel trägt:

Sehnsucht nach der Staatsidee?

In diesem Beitrag ist die Feststellung zu lesen: „Die Angriffskriege Preußens gegen Dänemark 1864, gegen Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870 bereiteten den Boden für die europäischen Katastrophen, die 1914 und 1939 ihren Ausgang nahmen...“

Der Begriff „Angriffskrieg“ ist politisch-ethisch wertmäßig besetzt, und die Verwendung dieses Begriffes in Zusammenhang mit den drei genannten Kriegen muss eindeutig als Geschichtsfälschung angesehen werden. Entweder haben Sie diese Fälschung bewusst begangen im Sinne einer Umerziehungsstrategie, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland betrieben worden ist, oder Sie haben Ihre Äußerungen in Unkenntnis der historischen Fakten gemacht, dann haben Sie leichtfertig gehandelt, und das ist ebenso gravierend.

Die Umerziehung, die nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben worden ist, hat in einem Punkt dasselbe Ziel verfolgt, das auch die nationalsozialistische Ideologie angestrebt hat, nämlich die tief greifende christlich-humanistische Tradition der Deutschen Geschichte auszulöschen.

Was der Nationalsozialismus zuerst mit Raffinesse und dann mit großer Rücksichtslosigkeit betrieben hat, wird heute mit einer ebensolchen Raffinesse unter dem Deckmantel der Liberalität ins Werk gesetzt.

Preußens Kultur- und Geistesgeschichte ist von einer Vielfalt, die apologetische Abhandlungen unnötig macht. Preußen braucht sich auch nicht verstecken gegenüber dem Vorwurf, es habe in seiner Geschichte einen Mangel an demokratischer Tradition aufzuweisen. Als Bismarck 1863 eine Reform des Deutschen Bundes mit einem freien, gleichen und geheimen Wahlrecht in Vorschlag brachte, lief ein Sturm der Entrüstung durch Europa auch in den Ländern, die uns heute als das Vorbild demokratisch- parlamentarischer Entwicklung vor unser historisches Auge gestellt werden.

Nicht nur in Preußen war die Ausbildung zur parlamentarischen-demokratischen Staatsform einem längeren Entwicklungsprozess unterworfen. In England erlangten die Frauen erst 1928 das Wahlrecht, und das Klassenwahlrecht wurde dort erst im Februar 1948 abgeschafft und durch den Grundsatz „one man one vote“ ersetzt.

„ Die Deutsche Frage wird nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse gelöst, sondern durch Blut und Eisen“. Diese Äußerung Bismarcks wird gern zitiert, um zu beweisen, was für ein rücksichtsloser, machiavellistisch ausgerichteter Machtpolitiker er doch gewesen sei. Eines wird dabei vergessen: Andere europäische Großmächte hatten diesen Prozess schon lange vollzogen, nur mit wesentlich mehr Blut und Eisen. Sogar die USA, die damals noch nicht einmal hundert Jahre alt waren, sind Bismarck hier noch zuvor gekommen in einem Bürgerkrieg von 1861-1865, der an Blutzoll und Grausamkeit alle drei Kriege der Bismarck- Ära übertraf.

Sie haben Ulrich Bräker erwähnt mit seinen Schilderungen unmenschlicher Strafen in der preußischen Armee. Nun, solche drakonischen Strafmaßnahmen waren in allen absolutistischen Armeen üblich, sie sind kein ausschließlich preußisches Relikt. Der große liberale englische Staatsmann, William Gladstone, hat sich noch für die Beibehaltung der Prügelstrafe in der englischen Armee eingesetzt, als sie in Preußen schon lange abgeschafft war.

Geschichtsdarstellung sollte nicht dazu dienen, Minderwertigkeitsempfindungen wachzurufen und wach zu halten, wir haben alle Grund genug uns in versöhnlichem Geist zu begegnen. Das gilt auch für die Geschichte dieses Jahrhunderts. Die Weimarer Republik ist nicht von Hitler zerstört worden, sie war schon korrupt und verfault als Hitler sie übernahm und weil sie korrupt und verfault war konnte Hitler sie übernehmen. Den entscheidenden Beitrag zur Zerstörung der Weimarer Republik haben die Siegermächte des Ersten Weltkrieges geleistet, indem sie diesen Staat über alles vernünftige Maß hinaus mit Sanktionen bedacht, gedemütigt und ausgebeutet haben, im Gegenzug haben sie Hitler mit ungewöhnlicher Großzügigkeit alles gewährt, was sie dem demokratischen Staat der Weimarer Republik verweigert haben. Das sind historische Fakten!

Zum Maastricht- Referendum in Frankreich am 20. September 1992 konnte „Le Figaro“ unwidersprochen verkünden: „Maastricht, das ist der Versailler Vertrag ohne Krieg.“ Dahin sind wir also gekommen. Im gegenwärtigen Jugoslawienkonflikt ist dieselbe Mächtekonstellation am Werk wie in den Juni- und Julitagen des Jahres 1914.

Es soll am Ende dieses Jahrhunderts offensichtlich noch einmal da begonnen werden, wo und wie es in diesem Jahrhundert schon einmal begonnen hat, diesmal nicht mit deutscher und schon gar nicht mit preußischer Beteiligung.

Erlauben Sie mir zum Schluss noch den Hinweis auf die Ablichtungen folgender beigefügter Schreiben:

Schreiben an „Spiegel“ – Herausgeber, Herrn Rudolf Augstein, vom 13. Juli 1991, mit dem Antwortschreiben vom 23. Juli 1991.

Schreiben an die Redaktion der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 1. November 1992, mit dem Antwortschreiben vom 20. November 1992.

Schreiben an das Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 3. April 1993.

Schreiben mit heutigem Datum an das Bundespräsidialamt.

Mit freundlichen Grüßen gez. Heinz Drews

Das Schreiben ist unbeantwortet geblieben.

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Heinz Drews Hamburg, den 27. August 1994

Postfach 605475

22249 Hamburg

Herrn Bundesaußenminister

Dr. Klaus Kinkel

Auswärtiges Amt

Adenauerallee 101

53113 Bonn

Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister!

Am 7. Juni dieses Jahres haben Sie anlässlich einer FDP- Veranstaltung zur Europawahl neben anderen Rednern Ihrer Partei und der FDP-Kandidatin zur Europawahl im Curiohaus in Hamburg einen Vortrag gehalten.

Ihre Rede und auch die anderen Vorträge hatten der Veranstaltung eine geistiges Gepräge gegeben, das meine Zustimmung gefunden hatte, darum habe ich das schlechte Abschneiden der FDP zur Europawahl bedauert.

Es war meine Absicht mich im Anschluss an Ihre Rede mit einem Diskussionsbeitrag zu beteiligen, wurde aber an meinem Vorhaben gehindert durch die anschließende Kurden- Demonstration. Ich hatte mir vorgenommen zum Thema Rechtsradikalismus in Deutschland einiges zu äußern. Das möchte ich heute etwas ausführlicher in schriftlicher Form nachholen.

Ich würde mich freuen, wenn mein Vorhaben auf Ihr Interesse stieße.

Zur angesprochenen Thematik habe ich in der Vergangenheit zahlreiche Stellungnahmen an eine Reihe ausländischer Vertretungen in der Bundesrepublik Deutschland übermittelt. Die folgenden Ablichtungen von Stellungnahmen, die diesem Schreiben beigefügt sind, bilden dazu nur einen kleinen Ausschnitt:

-Stellungnahme an die Botschaft des Staates Israel vom 12. Januar 1985.

-Stellungnahme am „Spiegel“ – Redakteur Rainer Weber vom 9. März 1985, mit dem persönlichen Antwortschreiben vom 12. März 1985.

-Stellungnahme vom 6. August 1985 an Bundespräsident a. D. Herrn Richard von Weizsäcker, mit dem dazugehörigen persönlichen Antwortschreiben vom 27.August 1985.

-Schreiben an Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl vom 27. Juni 1992, mit dem Antwortschreiben vom 9. Juli 1992 und der darauf erfolgten Erwiderung vom 25. Juli 1992.

Das Schreiben an Bundeskanzler Kohl vom 27. Juni 1992 steht entwicklungsbedingt in einem Zusammenhang mit meinem Schreiben an Bundespräsident a. D. Richard von Weizsäcker.

-Schreiben an die Botschaft des Staates Israel vom 20. März 1991, mit dem Antwortschreiben vom 2. April 1991.

Das Antwortschreiben der Israelischen Botschaft war für mich in einer schwierigen Situation eine besondere Ermutigung.

-Schreiben an „Spiegel“ –Herausgeber ,Herrn Rudolf Augstein, vom 13. Juli 1991, mit dem Antwortschreiben vom 23. Juli 1991.

Die Stellungnahme an Rudolf Augstein ist ein Beispiel für zahlreiche Stellungnahmen ähnlicher Art, in denen ich mich zur Wehr gesetzt habe, die Deutsche Geschichte als Ursprung allen Unheils zu interpretieren, verbunden mit einem hitlerzentrischen Geschichtsbild.

Die nationalsozialistische Ideologie und Symbolik hat in der Deutschen und Preußischen Geschichte keine Entsprechung, die als Ursprung angesehen werden könnte. Der Antisemitismus in der europäischen Geschichte ist nicht nur auf Deutschland beschränkt. Ein Beispiel aus der Englischen Geschichte kann das verdeutlichen: Im Jahre 1290 mussten auf Geheiß Königs Eduard I. von England alle Juden England verlassen. Erst nach mehr als dreihundertfünfzig Jahren durften unter Lordprotektor Oliver Cromwell Juden wieder englischen Boden betreten.

Der folgende, als Ablichtung beigefügte Schriftwechsel mit dem Bundespräsidialamt hat seinen Ursprung in einem Rechtsstreit. So sollte mein Schreiben vom 6. August 1985 an den damals amtierenden Bundespräsidenten, Richard von Weizsäcker, mit dazu dienen, um über meine Person ein „psychiatrisches Gutachten“ zu erstellen.

Es handelt sich um folgende Schriftstücke:

-Schreiben an den Bundespräsidenten, Richard von Weizsäcker, vom 24. Mai 1989, mit dem Antwortschreiben vom 12. Juni 1989.

-Zwei Schreiben jeweils vom 20. und 24. September 1992 an das Bundespräsidialamt, mit dem Antwortschreiben vom 30. September 1992.

Zum Abschluss sind meinem Schreiben folgende Ablichtungen dreier Schriftsätze beigefügt, die einen Ausschnitt bilden aus einem Rechtsstreit, der noch nicht abgeschlossen ist.

-Schriftsatz an das Bundesverfassungsgericht vom 24. Juli 1993. Die darin erwähnten Pressebeiträge aus der Tageszeitung „Die Welt“, der „Welt am Sonntag“ und „Le Figaro“ sind ebenfalls beigefügt.

-Schreiben an die Israelische Botschaft vom 21. Februar 1994.

-Schriftsatz an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht vom 21. Februar 1994.

Über den Rechtsstreit möchte nur informieren, so ist es nahezu ausgeschlossen dafür eine anwaltliche Vertretung zu bekommen, weil in der Angelegenheit ein politisches Risiko gesehen wird.

Es ist nicht meine Absicht gegenüber dem Bundesaußenminister für meine politische Überzeugung zu werben. Die beigefügten Informationen lassen jedoch erkennen, wie Kritik an westlicher
Politik, insbesondere an westlicher Deutschlandpolitik mit Mitteln geahndet wird, die mit dem, was gemeinhin als westliches Wertesystem gelobt wird, nicht mehr in Einklang gebracht werden kann.         Der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland setzt seine Hoffnungen auf eine politische Konstellation, wie sie von 1933 bis 1939 bestanden hat, in welcher Hitlers Machtergreifung nicht nur geduldet, sondern von internationaler Ebene aus auf alle erdenkliche Weise gefördert wurde. Und die Hoffnungen jener sind nicht ganz unbegründet, dem aufmerksamen Beobachter kann das nicht entgangen sein.

   Mit freundlichem Gruß
     Heinz Drews25

Dr. Klaus Kinkel
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DR. KLAUS KINKEL

Bundesvorsitzender
der Freien Demokratischen Partei

Herrn

Heinz Drews
Postfach 60 54 75                                            Bonn, 2. September 1994
                                                                         kd-a

 

22249 Hamburg

Sehr geehrter Herr Drews!


Vielen Dank für Ihr Schreiben vom 27. August 1994.


Fremdenfeindlichkeit, Hass, Antisemitismus und Rassismus haben in diesem Jahrhundert unser Land in die größte Katastrophe seiner Geschichte geführt. In ' Deutschland darf es daher nie wieder einen Nährboden für rechtsradikale Gewalt gegen Minderheiten und Andersdenkende geben.

       Als in Rostock, Mölln und Solingen Ausländerwohungen brannten und türkische Mitbürge starben, als Magdeburg ausländische Mitbürger von gewalttätigen Verbrechern gejagt wurden, als jüdische Friedhöfe und Gedenkstätten geschändet wurden, haben wir mit Beklommenheit erlebt, wie schnell die Schatten der Vergangenheit in das Bewusstsein der Welt zurückgekehrt sind und das Bild unseres Landes verdunkelt haben. Vielen von uns wurde erneut bewusst, dass politisches Gewicht und wirtschaftliche Leistungskraft aal' in nie ausreichen, um das Ansehen unseres Landes zu sichern. Dazu gehört mehr: eine berechenbare Außenpolitik, die Verlässlichkeit als Partner und Verbündeter, natürlich auch volkswirtschaftliche Leistung verbunden mit der Bereitschaft zu solidarischen Interessenausgleich. Dazu gehört aber vor allem die Gewissheit unserer Nachbarn und Freunde, dass Mitmenschlichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber Ausländern und fremden Kulturen in Deutschland zu den selbstverständlichen Grundlagen von Staat und Gesellschaft zählen.

     Die liberale Außenpolitik der letzten Jahrzehnte hat entscheidend dazu beigetragen, da viele Vorurteile gegenüber Deutschland abgebaut werden konnten. Die rechtsextremistischen Ausschreitungen in diesem und im vergangenen Jahr haben im Ausland wieder Besorgnis hervorgerufen, die jüngst durch das Urteil des Mannheimer Landgerichts gegen den NPD-Vorsitzenden Deckert noch bestärkt worden ist. Wir sind in der Gefahr, alle Erfolge der vergangenen Jahre zunichte zu machen. Es darf nicht geschehen, dass die rechte Szene jetzt mit dem Urteil in der Hand hausieren geht und niemand widerspricht.

     Der Aufschrei der Entrüstung, der nach den ausländerfeindlichen Ausschreitungen ebenso durch Deutschland ging wie nach dem Bekanntwerden des Urteils, zeigt mir aber, daß wir uns um die Demokratie in unserem Land keine Sorgen machen müssen. Fast 50 Jahre nach dem Ende des Krieges besteht kein Anlaß, Weimarer Verhältnisse heraufdämmern zu sehen. Die F.D.P. als beständiger Stabilitätsfaktor in der deutschen Politik hat mit dafür gesorgt, daß extremistische Parteien in unserem Land bisher kaum eine Chance hatten. Das wird sie auch weiterhin tun.

       Mit freundlichen Grüßen
     Kinkel02
      

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Auf das Schreiben von Klaus Kinkel ist am 24. September 1994 wie folgt erwidert worden:

Heinz Drews Hamburg, den 24. September 1994

Postfach 605475

22249 Hamburg

An den

Herrn Bundesaußenminister

Dr. Klaus Kinkel

Thomas- Dehler-Haus

Adenauerallee 266

53113 Bonn

Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister!

Für das Schreiben vom 2. September 1994, das Sie als Antwort auf mein Schreiben vom 27. August 1994 an mich gerichtet haben, danke ich Ihnen. Sie haben mir mit diesem Schreiben sehr viel Zuversicht vermittelt.

Bevor ich auf Ihre Ausführungen näher eingehe, möchte ich den Wunsch äußern, dass die Gegenwärtige Regierungskoalition auch über den 16. Oktober 1994 hinaus erhalten bleibt.

Es wäre ein Verlust, sollte die liberale Komponente in der deutschen Politik am Tage der Bundestagswahl weiter geschwächt werden.

Zunächst möchte ich noch einmal mein Kernanliegen verdeutlichen, das auch meinem Schreiben vom 27. August 1994 an Sie zugrunde gelegt ist. Dazu möchte ich hinweisen auf die beigefügte Ablichtung eines Schreibens, das ich mit Datum vom 6. August 1994 an die Amerikanische Botschaft gerichtet habe. Das Schreiben setzt sich auseinander mit der Politik, wie sie von den entscheidenden Siegermächten des Ersten Weltkrieges: Frankreich, Großbritannien und den USA gegenüber dem demokratisch verfasstem Staatswesen der Weimarer Republik und später gegenüber dem NS-Regime mit Fleiß betrieben worden ist. Für diese Politik, mit welcher die Weimarer Republik zerstört wurde, und mit welcher die genannten Mächte Hitler überschwänglich das zuteil werden ließen, was sie dem demokratischen Staat der Weimarer Republik verweigert hatten, gibt es keine Rechtfertigung und kann es kein Verständnis geben. Alle Entschuldigungen und Verniedlichungen, die bis in die Gegenwart dazu angeführt worden sind, können allenfalls Widerspruch auslösen und sind sämtlich nicht stichhaltig. Die historischen Fakten in dem Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen sprechen eine allzu deutliche Sprache, ein Blick in irgendwelche Geheimarchive ist dazu nicht nötig. Ohne die Politik, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg, mit dem Versailler Friedensdiktat als Grundlage, vollzogen worden ist, wäre Hitler nicht an die Macht gelangt. Hitler hat nach seiner Machtübernahme alle Verträge gebrochen, die zuvor mit den demokratisch legitimierten Regierungen des Deutschen Reiches geschlossen worden waren. Dieselben Mächte, die sich gegenüber der Demokratie unnachgiebig gezeigt hatten, waren gegenüber Hitler willfährig bis zur äußersten Erniedrigung. Die Demokratien des Westens haben mit diesem Verhalten ihre ureigensten Grundsätze der Lächerlichkeit preisgegeben, und dieselben Mächte haben nach dem Zweiten Weltkrieg Hitler instrumentalisiert, um Deutschland politische Unmündigkeit und moralische Inkompetenz zu bescheinigen, so geschieht es bis in die unmittelbare Gegenwart.

Russland hat seinen Machtanspruch in und über Deutschland aufgegeben, der Westen ist dazu nicht bereit, er ist nicht bereit Deutschland als gleichberechtigten Partner anzuerkennen. Es besteht die dringende Notwendigkeit, die Verhältnisse zu klären und neu zu gestalten, im Hinblick auf die Vergangenheit und im Hinblick auf die Zukunft. Solange das nicht geschehen ist, sollte es Deutschland nicht eilig haben mit den Integrationsbestrebungen nach Westen.

Es gibt einen weiteren Grund gängig gewordene Geschichtsbilder und Darstellungen zu überdenken: Den Jugoslawienkonflikt. In Sarajewo erlebt die Welt am Ende dieses Jahrhunderts das Zusammenspiel derselben Mächtekonstellation wie in den Junitagen des Jahres 1914, und es ist nicht Deutschland, das heute die Regie führt, genauso wie es damals nicht die Regie geführt hat. Das Versailler Friedensdiktat hatte das erzwungene deutsche Schulbekenntnis als Grundlage, daran muss erinnert werden. Es gibt eine politische Linie, die darauf abzielt, am Ende dieses Jahrhunderts noch einmal da zu beginnen, wo und wie es zu Beginn dieses Jahrhunderts schon einmal angefangen hat. Welch ein Rückschritt!

Die deutsche Politik, wenn Sie es mir gestatten, muss dahin gelangen, hierzu einige deutliche Worte zu äußern, verbunden mit der Frage, ob die Politik der Verständigung und Zusammenarbeit , die mit einer friedlichen Aufbauarbeit einhergegangen ist, fortgesetzt werden soll oder ob althergebrachte Konfrontationsmodelle, die teilweise schon auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken können, wieder zum politischen Leben erweckt werden sollen.

Die gegenwärtige serbische Aggression vollzieht sich vor einem historischen Hintergrund. Die serbische Seite hat mehrfach offiziell verlauten lassen, der Krieg sei eigentlich gegen Deutschland gerichtet. Das findet seine Bestätigung in der „Spiegel“ –Ausgabe vom 12. September 1994, in Zusammenhang mit einem Verbot, die deutsche Sprache an serbischen Schulen zu unterrichten.

Das Schauspiel, das Serbenführer Karadzic mit der Uno und der Nato veranstaltet, ist entwürdigend, und die Reaktion auf dieses Schauspiel ist es nicht weniger. Für das Nato- Bündnis ist oft das Superlativ verkündet worden, es sei das größte Militärbündnis , das es bisher in der Geschichte gegeben habe. Darum muss es als besonders merkwürdig angesehen werden, wenn aus maßgeblichen Kreisen dieses Bündnisses die Auffassung vertreten worden ist, die Nato sei militärisch nicht befähigt, der serbischen Aggression wirksam Einhalt zu gebieten. Dieselbe Entwicklung, wie im ehemaligen Jugoslawien, hat sich auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjet- Union in einer größeren Dimension vollzogen. Die Auflösung eines einheitlichen Staatsgebildes in mehrere unabhängige Staaten. In der Nato läuft gegenwärtig eine Diskussion um eine Ausweitung des Bündnisses nach Osten. Der geographische Rahmen, der dafür abgesteckt wird, schließt Russland und die GUS- Staaten aus. Das kann schnell zu einem Blockdenken führen und als Ausgrenzung verstanden werden.

Eine solche Entwicklung ist nicht im Sinne einer umfassenden europäischen Zusammenarbeit mit der Möglichkeit einer freiheitlichen Entwicklung für Individuen und Nationalitäten. Darum sollte der Vorschlag des Präsidenten der Föderativen Russischen Republik, Herrn Boris Jelzin, die KSZE als Grundlage zur Schaffung neuer Sicherheitsstrukturen zu nutzen, nicht achtlos verworfen werden.

Bevor mein Schreiben übergeht zu einer anderen Thematik, möchte ich noch einmal hinweisen auf mein Schreiben vom 6. August 1994 an die Amerikanische Botschaft. Eine Anzahl solcher Stellungnahmen, die sich mit historischen und politischen Vorgängen befassen, habe ich auch anderen ausländischen Vertretungen in der Bundesrepublik Deutschland zugesandt. Meine Kritik fällt dabei genauso deutlich aus, wie es seit Jahrzehnten gegenüber der Deutschen Geschichte üblich ist. Damit sollen keine Rechtfertigungen oder Rechthabereien betrieben oder eine Gegenrechnung aufgemacht werden, aber es soll auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, sich in versöhnlichem Geist zu begegnen, die für alle Beteiligten besteht.

Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch andere Nationen zu einer kritischen Bestandsaufnahme ihrer Geschichte gelangen. Eine solche Erwartung ist nicht unangemessen, von den Deutschen wird das täglich verlangt.

Als immatrikulierter Student für Geschichte an der Universität Hamburg verfolge ich zudem das Ziel, eine Diskussion an den Universitäten und darüber hinaus herbeizuführen über historische Vorgänge zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, das ist unerlässlich, damit allen nazistischen Bestrebungen auf nationaler und internationaler Ebene endgültig das politische Rückgrad gebrochen werden kann. Dazu muss uneingeschränkt die historische Wahrheit offen gelegt werden.

Seit dem Zweiten Weltkrieg ist nicht nur ein hitlerzentrisches Geschichtsbild entwickelt worden, oft wird auch vor die gesamte Deutsche Geschichte ein Zerrspiegel gestellt, der entsprechend gedreht wird, damit immer eine dümmliche und widerwärtige Gestalt herausschaut. Mit dieser Methode ist Geschichtsbewusstsein in Deutschland nahezu ausgelöscht worden. Viele Menschen in Deutschland, insbesondere die Jugend, sind bereit auf nationale Identität und damit verbundenes Geschichtsbewusstsein und kulturelle Eigenständigkeit zu verzichten, damit sich niemand in der Welt mehr ärgert. Die Mehrheit in unserem Lande denkt sicher so. Es sollte zumindest erlaubt sein, darüber nachzudenken, ob dieser Weg den gewünschten politischen Nutzen bringen wird. Selbst in unseren Nachbarländern, rundherum, lassen sich des Öfteren Stimmen vernehmen, die eine solche Entwicklung nicht wünschen. Es wäre gut, wenn es darüber zu einem Dialog käme, der auf gegenseitige Achtung gründet. Die Deutsche Geschichte mit ihren kultur- und geistesgeschichtlichen Leistungen bietet reichlich Anhaltspunkte mit positiven Vorzeichen, auch für liberale Politik.

„Hier muss ein jeder nach seiner Facon selig werden“, dieser Ausspruch Friedrichs des Großen ist in den folgenden Jahrhunderten zu einem geflügeltem Wort geworden, und der Satz hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Er wurde in einer Zeit gesprochen, als Europa nahezu zweihundert Jahre an Glaubenskriegen und Glaubensverfolgungen hinter sich gebracht hatte. Um Missverständnisse zu vermeiden ist zu dem folgenden eine Zwischenbemerkung erforderlich.

Es ist nicht beabsichtigt, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, aber es kann nicht angehen, wenn Mächte und Individuen, indem sie die Geschichte verbiegen, so aus der Geschichte eine Identität beziehen, die ihnen rechtmäßig nicht zukommt. Am 25. Februar 1947 wurde Preußen vom Alliierten Kontrollrat als Staat aufgelöst mit der Begründung, Preußen sei immer ein „Hort der Reaktion und des Militarismus’“ gewesen. Die Preußische Geschichte ist nicht nur eine Geschichte der Reaktion, sie ist auch eine Geschichte einschlägiger Reformen: Von der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Jahre 1717 über die Justizreform, die 1794 zum Preußischen Landrecht führte und die Reformen von Steins und Hardenbergs, bis hin zu Bismarcks Sozialversicherungsgesetzgebung. Als Friedrich der Große die Fortsetzung der Justizreform anordnete, hat er die Maxime ausgegeben, vor dem Gesetz müssten der König und der Bettler gleichberechtigt dastehen. Ob der demokratisch freiheitliche Rechtsstaat, mehr als zweihundert Jahre später, dieser Maxime gerecht wird kann bezweifelt werden, meine persönlichen Erfahrungen haben mich etwas anderes gelehrt.

Der Verdacht, die Abneigung gegen Preußen und seine Geschichte könnte eher in seinen Tugenden als in seinen Untugenden begründet sein, ist keineswegs abwegig. Im politischen Testament Friedrichs des Großen von 1752 findet sich ein Satz, der komprimiert eine historische Entwicklung veranschaulicht: „Wir besitzen weder ein Peru noch reiche Handelskompanien noch eine Bank noch soviel andere Hilfsquellen wie Frankreich, England und Spanien, aber durch Gewerbefleiß können wir dahin gelangen, neben ihnen eine Rolle zu spielen.

Die Finanzwirtschaft beruht auf Pünktlichkeit in den Einnahmen und auf Ordnung in den Ausgaben.“

Wer hört so etwas schon gerne? Wer den letzten Satz in dem Zitat nachdenklich betrachtet, der wird seine brennende Aktualität nicht leugnen können.

Preußen hat auf seinem Weg durch die Geschichte auf machtpolitische Grundsätze nicht verzichtet, das ist ohne Zweifel. Preußen hat auch Grenzen verschoben, es hat aber nicht die Menschen mit verschoben. Über Generationen hinweg haben Glaubensverfolgte in Preußen Zuflucht gesucht und gefunden. Preußens Aufstieg zu wirtschaftlicher Bedeutung hätte sich ohne die französischen Hugenotten nicht in dem Umfang vollzogen.

Preußen einflussreicher Bezug zur Deutschen Geschichte ist bekannt, ebenso unverkennbar ist aber auch sein Bezug zur übrigen europäischen Geschichte.

Ein Mangel an liberaler und demokratischer Tradition ist von vielen in der Deutsch- Preußischen Geschichte entdeckt worden.

Es waren Frauen, die Ausgangs des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen zentralen Anlaufpunkt bildeten in Korrespondenz und bei Zusammenkünften, die das Geistesleben der damaligen Zeit sehr wesentlich mitgestaltet haben. Und es waren jüdische Frauen: Henriette Herz, Dorothea Veit und Rahel Varnhagen.

Die Rückschläge der Demokratiebewegung im vorigen Jahrhundert in Deutschland haben nicht nur eine innenpolitische, sie haben auch eine außenpolitische Komponente. Als Bismarck 1863 eine Reform des Deutschen Bundes in Vorschlag brachte, mit einem umfassenden freien und gleichen und geheimen Wahlrecht, ging ein Sturm der Entrüstung durch Europa auch in jenen Ländern, die uns heute als Vorbild demokratischer Entwicklung vor Augen geführt werden. Das Wahlrecht zum Deutschen Reichstag nach 1871 war das fortschrittlichste im damaligen Europa. Der verfassungsrechtliche Mangel und Nachteil lag in der unzureichenden Kompetenz des Reichstages als Parlament. Andere Länder haben ebenso einen langen Entwicklungsprozess zur Ausbildung der demokratischen Staatsform erlebt. In England wurde das Klassenwahlrecht vollends erst im Februar 1948 (eintausend neunhundert-

achtundvierzig ) abgeschafft.

Gerade aus der preußischen Tradition ist der NS-Herrschaft von Beginn an ein gewichtiger Widerstand erwachsen und nicht erst am 20. Juni 1944. Von internationaler Ebene aus hat dieser Widerstand keine Unterstützung erfahren, genauso wenig wie der Widerstand der christlichen Kirchen, der Sozialdemokratie und anderer Gruppierungen. Wie allein schon anders wäre die Geschichte verlaufen, wenn der Widerstand, der sich in Deutschland formiert hatte, von internationaler Ebene aus auch nur annähernd die Unterstützung erfahren hätte, wie sie Hitler auf so vielfache Weisen in großem Umfang entgegennehmen durfte.

Dank dieses Rückhaltes konnte Hitler seine Macht ständig festigen und weiter ausbauen, bis Widerstand nur noch unter schwersten Repressalien möglich war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Preußen und die Deutsche Geschichte so abgehandelt und behandelt worden, als habe Immanuel Kant nie gelebt, um noch einmal einen Namen zu nennen, der symbolhaft dasteht für viele andere Namen.

In seiner Rede zum Ermächtigungsgesetz, die keine direkten antisemitischen Äußerungen enthält, hat Hitler den christlichen Kirchen groß angelegte Versprechungen gemacht, die er wenige Jahre danach allesamt gebrochen hat, und ebenso hinterhältig ist er auch mit der preußischen Tradition verfahren.

Es muss noch einiges zur Begründung angeführt werden, warum Preußen in dieser Betrachtung im Vordergrund steht. Preußen hat die Entwicklung in der neueren Deutschen Geschichte maßgeblich beeinflusst, seine Darstellung und Behandlung ist sehr oft auf das übrige Deutschland übertragen worden. Preußen hat auf reformerischen Wegen Revolutionäres verwirklicht. Der aufgeklärte Absolutismus stand unter der Überschrift: „Ich bin des Staates erster Diener“. Es war nicht nur ein Satz für das Poesie-Album, er wurde mit Inhalt gefüllt in einer Zeit, als gigantische Prunkentfaltung und Mätressenwirtschaft das Markenzeichen der absolutistischen Herrschaftsformen waren.

Eine Anmerkung noch zu Österreich, dem großen Gegenstück zu Preußen in der Deutschen Geschichte. Österreich kann mit einer anderen historischen Leistung aufwarten, es hat mit anderen Völkern zusammen einen Staat geschaffen, der sich aus vielen Nationalitäten zusammensetzte. Seine Geschichte ist nicht problemlos verlaufen, aber am Ende wurde dieser Staat nicht von innen, sondern von außen zerstört.

Es gibt noch sehr viele andere Fakten, die angeführt werden könnten und müssten, und für die eine differenzierte Betrachtung angebracht oder sogar eine Richtigstellung nötig wäre.

Es ist unzulässig die Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit der Deutschen Geschichte auf den braunen Einheitsmenschen zu reduzieren.

In Zusammenhang mit der NS-Herrschaft ist es zu einer Begriffsschöpfung besonderer Art gekommen. Die politischen Verbrechen, die während dieser Herrschaft, von Nazi-Ideologen angeordnet, zur Durchführung gelangten, werden als „einzigartig“ bezeichnet. Mit dieser Begriffsschöpfung können alle politischen Verbrechen, die außerhalb nazistischer Methodik begangen worden sind und begangen werden, einem ethischen Minimalkonsens zugeordnet und so aus der Betrachtung und Verurteilung ausgeklammert werden. Das ist nun wirklich ein beachtenswerter Vorgang. Verbrechen an deutschen Menschen bleiben auf diese Weise ebenfalls unerwähnt.

Ein Hinweis für die politische Gegenwart: Völkermord geschieht heute vor laufenden Fernsehkameras und ist Fernsehalltag geworden mit Filzpantoffeln und Flaschenbier.

Zum Abschluss möchte ich noch eingehen auf die Ausführungen Ihres Schreibens vom 2. September 1994.

Auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland haben sich viele Nationalitäten und Kulturen etabliert, das ist eine große Herausforderung, der begegnet werden kann und muss. Zu einer möglichen deutschen Ausländerpolitik und Gesetzgebung möchte ich eine völlig unmaßgebliche Auffassung in kurzen Umrissen wiedergeben.

An Stelle des Artikels 16 im Grundgesetz sollte eine konsequente umfassende Einwanderungsgesetzgebung treten, mit einer ebenso konsequenten politischen Zielsetzung. Es hat sich als wenig sinnvoll erwiesen, das Asylrecht verfassungsmäßig abzusichern. Darum konnte weltweit um so wirksamer missbrauch damit getrieben werden. Die Einwanderung geschieht wild und unkontrolliert und ist weitgehend Schlepperorganisationen überlassen, deren Mafiacharakter der Öffentlichkeit auch nicht verborgen geblieben ist.

In einer Einwanderungsgesetzgebung könnte auch ein Asylrecht mit verankert werden.

Viele Ausländer die zu uns kommen, verlassen ihre Herkunftsländer, weil dort das Existenzminimum nicht gesichert ist. Darum muss es das Ziel einer Ausländerpolitik sein, den Menschen in ihren Heimatländern ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen. Eine Einwanderung sollte kontrolliert im Zusammenwirken mit den Herkunftsländern der Menschen durchgeführt werden mit dem Ziel einer politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Für eine deutsche Ausländer und Einwanderungspolitik Hitler zu instrumentalisieren, das muss gänzlich ausgeschlossen werden, damit wird genau das Gegenteil von dem bewirkt, was eigentlich erreicht werden soll. Indem die nationalsozialistische Ideologie so instrumentalisiert wird, entsteht neues Unrecht. Die deutsche Bevölkerung wird auf dem Boden, auf dem ihre Geschichte gewachsen ist und sich entwickelt hat, zwangsläufig gegenüber ihren ausländischen Mitbürgern moralisch disqualifiziert und erhält einen Minderwertigenstatus. Das beginnt sehr intensiv über die Kinder in den Schulen. Deutsche Kinder und Jugendliche werden im Unterricht mit den Ereignissen der NS-Herrschaft konfrontiert in der üblichen Einseitigkeit und dürfen beschämt dasitzen, während ausländische Kinder und Jugendliche selbstbewusst, natürlich und unbefangen ihr nationales und kulturelles Erbe in Anspruch nehmen.

Hierzu passt ein Zitat des französischen Philosophen Jean Paul Satre: „ Wer die Enkel für die Handlungen ihrer Vorfahren haftbar machen will, der muss einen primitiven Begriff von Verantwortung haben.“

Hitler ist als das große Schneidemesser benutzt worden, um die Nachkriegsgeneration von der gesamten Deutschen Geschichte abzuschneiden.

Sie haben in Ihrem Schreiben auf das Deckerturteil hingewiesen, das im Ausland massive Pressekritik ausgelöst hat. Diese Kritik ist vom Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Herrn Ignaz Bubis, zurückgewiesen worden mit der Bemerkung, solche ausländischen Presseorgane sollten sich einmal um die Verhältnisse bekümmern, die das eigene Umfeld betreffen und dabei einige Länder namentlich genannt.

Vor einigen Jahren habe ich in einer Stellungnahme den Vorschlag gemacht, jüdischen Menschen, die in Deutschland leben möchten, sofort die deutsche Staatsbürgerschaft zu gewähren, damit in Deutschland wieder eine einflussreiche jüdische Gemeinde entstehen und in versöhnlichem Geist das wiederhergestellt werden könnte, was durch die NS- Herrschaft zerstört worden ist. Darüber war es mit der Israelischen Botschaft zu einem Schriftwechsel gekommen. Die Israelischer Botschaft war meinen Gedankengängen gegenüber zurückhaltend.

Ganz zum Schluss möchte ich noch ein Beispiel anführen, wie die NS-Herrschaft gegenüber der F.D.P. instrumentalisiert wird. In der „Spiegel“ –Ausgabe vom 19. September 1994 ist ein Bericht zu finden, der die Zuversicht, die in der F.D.P. herrscht im Hinblick auf den 16. Oktober, vergleicht mit der Haltung eines NS-Gauleiters in den letzten Kriegstagen.

Das ist bezeichnend für den politischen Stil, wie er gerne in unserem Lande gepflegt wird. Das gesamte linke politische Spektrum lebt davon, Hitler zu instrumentalisieren. Es geriete in arge politische Existenznot, wenn diese Möglichkeit nicht mehr bestünde.

Demokratie lebt nicht vom innergesellschaftlichen Machtkampf mit Zerstörungstendenzen, sondern vom Dialog, der zu einer Synthese der Vernunft führt.

Das gilt auch für die Ausländerpolitik. Wer die milliardenfache soziale Rückständigkeit auf der Welt ausschließlich auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland lösen will, der ist realitätsfern oder will gar nicht das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten in Deutschland und auf der Ebene der internationalen Völkergemeinschaft auf bessere und gerechtere Grundlagen stellen, sondern will politischen Zündstoff schaffen.

Am 13. September 1994 hat Ihr Vorgänger im Amt des Bundesaußenministers, Hans Dietrich Genscher, in Hamburg im Curiohaus gesprochen zu dem Thema: „Deutschlands Verantwortung in der Welt“.

Er hat hingewiesen auf die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern und zur Situation in den Entwicklungsländern und betont, es müsse hier schnell und wirksam etwas in Bewegung kommen, sonst drohe eine verhängnisvolle Entwicklung.

Er hat auch Stellung genommen mit weiser Zurückhaltung zur Frage einer nationalen deutschen Identität. Diese Gedankengänge haben mich in meinem Schreiben an Sie bewegt.

Mit freundlichem Gruß gez. Heinz Drews

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Der Dichter August Kopisch(1799-!853) hat in einem Gedicht preußisches Wesen eingefangen, so wie es seiner Geschichte am ehesten entspricht:

Des alten Fritz Leibkutscher soll aus Stein

Zu Potsdam auf dem Stall zu sehen sein-

Da fährt er so einher,

Als ob er lebend wär:

Aller Kutscher Muster, treu, fest und grob.

Pfund genannt, Umschmeißen kann er nicht: das war sein Lob!

Mordwege fuhr er ohne Furcht, sein Mut

Hielt aus in Schnee, Nacht, Sturm und Wasserflut.

Ihm war das einerlei;

Er fand gar nichts dabei,

In dem Schnurrbart fest und steif blieb sein Gesicht,

Und man sah darauf kein schlimmes Wetter niemals nicht.

Doch rührte man an seinen Kutscherstolz,

War jedes Wort von ihm ein Kloben Holz;

Woher es auch geschah,

Dass er es einst versah

Und dem alten Fritz etwas zu gröblich kam,

Wessenhalb derselbe eine starke Prise nahm

Und sprach: „Ein grober Knüppel wie Er ist,

Der fährt fortan mit Eseln Knüppel oder Mist!“

Und so geschahs. Ein Jahr

Bereits verflossen war

Als der Pfund einst Knüppel fuhr und guten Muts

Ihm begegnete der alte Fritz; der frug: Wie Tuts?“

„I nun, wenn ich nur fahre,“ sagte Pfund,

Indem er fest auf seinem Fahrzeug stund,

„So ist mirs einerlei

Und weiter nichts dabei,

Obs mit Pferden oder obs mit Eseln geht,

Fahr ich Knüppel oder fahr ich Euer Majestät.“

Da nahm der alte Fritz Tabak gemach

Und sah den groben Pfund sich an und sprach:

„Hüm find er nichts dabei

Und ist ihm einerlei,

Ob es Pferd, ob Esel, Knüppel oder ich;

Lad er ab und spann er um, und fahr er wieder mich.

Aufstieg Preußens

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